Scherbenmond
Tessas lüsterner Habgier zum Opfer gefallen war? Nein, an Tessa wollte ich jetzt nicht denken. Ich befand mich auf einer Insel. Tessa-freie Zone.
Was war noch neu in der Hütte? Ah, das Regal neben dem Schreibtisch - samt Schallplattenspieler und CD-Anlage. Colin versuchte also immerhin, die Technik zu überlisten. Musik war für ihn ebenso wichtig wie für mich. Und doch hatte ich sie in den vergangenen Wochen gemieden, wo es nur ging. Denn ich konnte nicht Musik hören, ohne etwas dabei zu empfinden, und die meisten dieser Empfindungen waren untrennbar mit Erinnerungen verknüpft. Erinnerungen an Colin.
Ich wollte gerade nach der CD greifen, die auf der Lautsprecherbox lag, als mich das untrügliche Gefühl beschlich, beobachtet zu werden. Nein, nicht nur beobachtet, sondern fixiert. Um nicht zu sagen: durchbohrt.
Mit geducktem Kopf wandte ich mich zur Seite. Die Anspannung verflog innerhalb eines erlösenden Atemzugs.
»Mister X?« Ich trat näher. »Nein. Wenn du Mister X bist, bist du geschrumpft. Schätzungsweise um die Hälfte.«
Das Kätzchen war winzig, aber rabenschwarz wie Mister X und der Ausdruck in seinen gelben Augen war der gleiche. Immer hoheitsvoll, immer einen Hauch empört. Auch jetzt, als ich das zierliche Tierchen im Nacken kraulte und es meine Zärtlichkeit genoss, lauerte ein stiller Vorwurf in seinem Gesicht. Doch ich verwöhnte es weiter, und während ich es tat, stoben die Möwen mit einem Mal kreischend davon und jagten auf das offene Meer hinaus. Ich hörte nur noch das Schnurren des Kätzchens und das Rauschen der Brandung. Ein unvermittelter Wärmeschauer streifte meinen Nacken.
Eine dritte Seele war hier. Da war meine eigene, unruhig und mit den Flügeln schlagend, dann die würdevolle, aber räuberische Seele des Kätzchens. Und eine, deren Kräfte so mächtig und überwältigend waren, dass ich mir für einen Moment wünschte, meine würde sich aus dem Gefängnis meines Körpers befreien und den Möwen nach auf das Meer hinausflüchten. Oder sich mit der anderen Seele vereinen. War es überhaupt eine Seele?
Am besten tat ich so, als sei ich gar nicht hier. Noch besser: als sei alles nur ein Traum. Einer von den guten, in denen ich immer wusste, dass mir nichts Schreckliches oder Böses widerfahren konnte. In denen ich unsterblich war. Ich konnte aufwachen, wenn das Wesen in meinem Rücken zu gefährlich wurde.
Doch ich wollte nicht aufwachen. Ich straffte meinen Nacken, auf dem sich seine Augen wie zwei glühende Kohlenstücke in die Haut brannten.
»Dreh dich um.«
Ich gehorchte nicht sofort. Ich wollte mir Zeit lassen - Zeit, mich zu fassen und mit allem zu rechnen. Ich musste jedoch zugeben, dass ich mit diesem Anblick nicht gerechnet hatte.
Ich hatte Colin noch nie zuvor so gesehen. Er trug weder eine seiner dunklen, schmalen Hosen noch sein weißes Hemd. Nicht einmal seine verfallenen Stiefel. Er war barfuß wie ich. Und es entzückte mich, dass mein Tessa-Verdacht von vorhin jeglicher Grundlage entbehrte. Denn Colin hatte den Kilt an. Ja - er trug seinen Kilt und, bei Gott, ich hatte mich selten an einem kriegerischeren Anblick ergötzen dürfen als in diesen still staunenden Atemzügen. Er sah mehr aus wie ein Punk als wie ein Schotte; glücklicherweise ohne den Makel schlechter bunter Frisuren und ungepflegter Haut. Wie ich zuvor triefte er vor Nässe. Seine Brustwarzen drückten sich durch das schwarze, eng anliegende Shirt. Ich konnte jeden seiner sanft gerundeten Muskeln sehen. Er musste eben erst aus dem Meer gestiegen sein.
Und seine Haare ... oh ... sie waren gewachsen. Er hatte sie zurückgebunden, es hatte eine Art geflochtener Zopf werden sollen, doch das interessierte die feucht glänzenden Strähnen ebenso wenig wie meine. Sie tanzten.
Die untergehende Sonne verzauberte seine Augen in ein schillerndes Mosaik aus türkisfarbenen Splittern, sanftem Braun und tiefem, verschlingendem Schwarz. Ich neigte den Kopf und mein Blick folgte einem Einsiedlerkrebs samt Muschel auf seiner träumerischen Flucht aus Colins Bann, dem ich ebenfalls längst erlegen war.
»Warum trägst du meinen Kimono?«
»Warum trägst du einen Rock?«
Er mochte mir ja viel erzählen, doch eines wusste ich: Zum Träumejagen im Meer brauchte Colin Jeremiah Blackburn keinen Rock. Er brauchte überhaupt keine Kleider. Er fror nicht.
»Weil ich es stets ein wenig entwürdigend finde, mich beim Liebesspiel aus meinen Hosen winden zu müssen.«
Mein Mund klappte auf und sofort wieder
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