Scherbenmond
Zeiten waren schlecht, wie Paul immer so schön sagte. Auch in Friedrichskoog. Nielsen schien das jedoch nicht zu betreffen. Er machte keine Anstalten, das Geld zu nehmen. Wieder überkam mich ein gewaltvolles Frösteln und meine Zähne schlugen aufeinander. Warum fügte ich mich nicht? Es war Schicksal. Ich hatte keine Möglichkeit, nach Trischen zu kommen. Wieso das Unmögliche versuchen? Was für eine Erlösung würde es sein, von diesem schwankenden Boot zu verschwinden, mich ins Auto zu setzen, zurück nach Hamburg zu brettern, mich ins Bett zu vergraben, zu schlafen ... und dann? Zu warten, bis Paul und sein Mahr von ihrer Liebeskreuzfahrt zurückkamen?
»Bitte. Bitte bringen Sie mich da raus. Herr Blackburn braucht die Medikamente. Und ich muss sie ihm persönlich bringen.«
»Ist Ihnen kalt?« Nielsen deutete auf meine zitternden Hände.
»Nein. Ich hab nur furchtbare Angst vorm Bootfahren.«
Vielleicht mochte Nielsen panische Mädchen. Vielleicht aber hatte ihm mein Angstgeständnis auch gezeigt, wie ernst es mir war, auf die Insel zu kommen. Sein eisernes Seemannsherz wurde weich. Knurrend schob er mich auf eine Sitzbank, löste die Leinen und warf den Motor an. Wenn ich da rauswolle, rief er mir zu, müssten wir uns sputen, bevor der Wasserstand den Weg nach Trischen unpassierbar mache. Zu viele Untiefen.
»Sie können auch sofort wieder zurück!«, brüllte ich durch den Fahrtwind, als das Boot an Geschwindigkeit zulegte und ich mir schon mal im Geiste einen Platz an der Reling aussuchte, von dem aus ich ungestört und ohne entgegenkommende Böen ins Wasser kotzen konnte. »Ich bleibe dort!«
Nielsens Kopf fuhr herum. Er sah mich so zweifelnd an, dass mir selbst ein wenig mulmig zumute wurde. Ich überlistete meinen Mund zu einem arglosen Strahlen und zwang mich, all das zu tun, was ich in dem Internetratgeber über Seekrankheit gelesen hatte. Auf den Horizont gucken. Mit den Wellen mitgehen. Ablenkung suchen (wo, bitte? Der Horizont war eine Linie, mehr nicht!), sich bewegen (nicht möglich, ohne über Bord zu stürzen). Eine Ingwerknolle hatte ich auch nicht zur Hand. Ich grub meine Fingernägel in den vermeintlichen Akupunkturpunkt im Handgelenk - die Gefahr war groß, dass ich mir dabei meine gesamte Blutzufuhr abquetschte - und fragte mich, ob ich jemals wieder Speichel im Mund haben würde. Inzwischen kribbelten nicht nur meine Nasenspitze und Fingerkuppen, sondern Gesicht, Arme, Beine, Hände - ja, die Ohnmacht klopfte energisch an und verlangte, eintreten zu dürfen.
Wie hatte Colin gesagt? Ich sei nicht seekrank, ich habe nur Angst. Die Symptome waren zwar zum Verwechseln ähnlich, doch wenn jemand über meine Gefühle Bescheid wusste, dann er. Und er behielt recht. Ich kotzte nicht über die Reling. Das minderte meine Panik allerdings nur geringfügig. Als Trischen vor uns auftauchte -zuerst die Hütte, dann die flachen Dünen -, drosselte Nielsen den Motor, sodass wir abrupt an Fahrt verloren.
»Was ist?«, rief ich. Er drehte sich langsam zu mir um.
»Er ist nicht da. Sein Boot ist nicht hier. Wir kehren um.«
»Nein!«, rief ich schrill. »Nicht umkehren!«
Ich stürzte nach vorne, obwohl ich die Luise damit in gefährliche Schräglage brachte, und klammerte mich an Nielsens Schulter fest, um nicht zu fallen. »Bitte nicht. Bringen Sie mich auf die Insel. Ich warte dort auf ihn.«
Doch Nielsen hatte schon das Steuerrad herumgerissen und drückte den Gashebel nach oben. Der Motor heulte auf. Entschieden packte ich seine knorrige Hand und presste den Hebel wieder herunter. Das Boot hustete gequält, dann gab es einen so heftigen Schlag, dass unsere Köpfe aneinanderprallten.
»Sind Sie wahnsinnig, Mädchen?«, fuhr Nielsen mich an. »Ich lasse Sie nicht alleine da raus, nicht zu diesem Menschen, ich traue ihm nicht. Er ist nicht ganz ...«
»Ja, genau!« Ich deutete warnend auf meinen Rucksack. »Er hat sie nicht alle. Und wenn ich ihm nicht sofort seine Medikamente bringe, nimmt er seine Axt und haut all den lieben Vögelein da draußen den Kopf ab. Verstanden?«
Nielsen schnaubte nur, drückte mich mit erstaunlicher Kraft zurück auf die Bank und nahm Fahrt auf.
»Dann viel Spaß noch!«, schrie ich. »Und danke!«
Die Wellen hatten uns während unserer kleinen Diskussion immer näher an den Strand von Trischen getrieben. Es war nicht mehr weit. Und Nielsens Reaktionen waren gut, aber nicht schnell genug. Er bekam nur noch meinen linken Stiefel zu fassen, bevor ich ins Wasser
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