Scherbenmond
zu. Colins Miene war unbewegt, doch sein Blick funkelte vor vergnügtem Spott.
»Ja, da hast du wohl recht«, erwiderte ich kühl. Und wie recht er hatte! Andi war zu einem zappelnden Lindwurm mutiert, als er sich aus seiner Jeans geschält hatte. Auch das hatte nicht zur allgemeinen Entspannung beigetragen. Ich selbst war immerhin nackt gewesen. Und jetzt... Herrgott, wer war eigentlich Andi?
»Nur der Vorarbeiter«, beantwortete Colin meine unausgesprochene Frage und grinste diabolisch. Seine Zähne blitzten. Was hatte ihn nur derart stark werden lassen? Nicht einmal nach dem Erinnerungsraub hatte er so unbesiegbar gewirkt. Seine Schönheit machte mich schwindelig und doch vermochte ich es nicht, meine Augen von ihm zu lösen. Da war noch etwas anderes, was ich so nicht an ihm kannte ... Ja, das breite Lederarmband. Es fehlte.
Bevor die Panik sich auf meinen Rücken krallen konnte, hastete ich auf ihn zu, nahm seinen Arm und drückte meine Lippen auf die Tätowierung. Konfrontation. Nur das half. Nichts sonst. Doch seine Hand war eiskalt, kalt und feucht und ... tot. Mein Sichtfeld verschwamm. Ich hörte mich aufwimmern. Schon roch ich den bestialisch süßen Verwesungsgestank und seine Haut gab nach unter meinen Lippen. Schleimig, aufgedunsen. Kein fließendes Blut mehr in den Adern. Gleich würde ich die anderen spüren, sie rollten auf mich zu, um mich unter sich zu begraben, all die Leichen mit ihren hohlen, leeren Augen, deren Seelenqualen niemand hatte lindern können, niemand ...
»Bleib hier, Ellie! Bleib bei mir!« Colins samtene Stimme durchbrach meine Finsternis und ich hielt mich daran fest, spürte seine Hände nach mir greifen und mich hochziehen.
»Öffne deine Augen. Sieh mich an.«
»Ich kann nicht...«, hauchte ich kraftlos. Ich versuchte zu schreien. Aber es war wie in diesen unendlich langen Träumen, in denen man weder lebte noch starb, nur schrie, lautlos schrie ...
»Doch, du kannst. Du kannst, Ellie. Du bist hier bei mir, nicht dort. Sieh hin!« Er pustete kühl gegen meine Lider und sie reagierten sofort. Obwohl ich es nicht für möglich gehalten hatte, öffneten sie sich.
»Schau mich an. Mich.« Colin packte den Saum seines schwarzen Shirts und zog es sich in einer schnellen Bewegung über den Kopf. »Ich lebe. Ich bin hier. Nichts anderes. Nur du und ich.« Er nahm meine Hand und legte sie auf seine nackte Brust. »Was fühlst du? Sag mir, was du fühlst. Konzentrier dich, Ellie! Verflucht noch mal, tu, was ich dir sage!«
»Ich ... ich ... da ist das ... dieses Rauschen ... und ...«
»Nicht die Augen schließen. Sieh hin! Vergewissere dich, dass du hier bist. Atme. Du musst atmen, mein Herz, sonst stirbst du.«
Ich holte bebend Luft, erst durch den Mund, dann, etwas kühner geworden, durch die Nase. Oh. Das war gut.
»Du ... riechst ... ich weiß nicht ... nach Meer und Salz und ... ich möchte dich essen ...«
Colin lachte leise. Aber es war wirklich so. Es fühlte sich an, als würden meine Zähne plötzlich spitzer werden. Auch mein Speichel kehrte zurück. Das Wasser lief mir im Munde zusammen. Ich hatte Hunger. Kein Verwesungsgeruch mehr. Nur ein köstlicher Duft ... so köstlich ... Ich strich mit der Hand über den Hufabdruck unterhalb seines Nabels und erstarrte.
»Mein Gott ... du glühst ja!« Seine Haut war fiebrig heiß. Vierzig Grad. Mindestens. »Was hast du ...?« Wen hatte er nur beraubt? Hatte er wieder Erinnerungen gestohlen? Und von wem? Es konnte nicht nur ein Mensch gewesen sein. Es mussten Dutzende gewesen sein.
»Wale.« Er lächelte versonnen. »Gerade eben. Ich habe sie gestern schon rufen hören. Eine ganze Herde. Wir sollten ihnen einen Tempel errichten.«
»Oh ja ... das sollten wir«, pflichtete ich ihm zerstreut bei. »Aber bitte im Sitzen. Ich kann nicht mehr stehen. Nicht wegen der Angst, sondern ...« Sondern. Das musste reichen.
»Das hier brauche ich.« Mit einem Glitzern in den Augen löste Colin den Knoten aus dem Kimonogürtel und ein kühler Luftzug in meinen Kniekehlen verriet mir, dass ich soeben meine Hose verloren hatte.
»Schon besser.« Colins Stimme war rau geworden. Ohne mich aus dem Visier zu lassen, trat er rückwärts auf das Bett zu und lehnte sich an das Gitter am Kopfende. Mithilfe seiner Zähne fesselte er seine Hände oberhalb seines Hauptes an die eisernen Verstrebungen und zog knurrend den Kimonogürtel fest.
»Jetzt kannst du mit mir machen, was du willst.«
Nun gut. Das war immerhin eine Option. Was ich
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