Scherbenmond
hechtete. Und behielt ihn.
Das Meer war so eisig, dass mein Herz einen Moment lang zu schlagen aufhörte. Dann kämpfte ich mich an die Oberfläche und schnappte keuchend nach Luft. Obwohl die Kälte mich beinahe lähmte, schaffte ich es, meinen Arm aus den Wellen zu strecken und Nielsen zuzuwinken.
»Fahren Sie nur! Ich bin Leistungsschwimmerin! Fahren Sie!«
Die nächste Welle kam zu schnell. Ich schloss nicht rechtzeitig meinen Mund, schluckte Salzwasser und fing hirnrissigerweise zu husten an, bevor mein Kopf wieder an die Luft gelangte. Wenn Nielsen das sah, würde er mich schnurstracks aus den Fluten ziehen und ans Festland bringen. Doch das Boot war schon so weit weg ... so weit ... Mein Rucksack sog sich mit Wasser voll und wurde schwer, zog mich nach unten. Strampelnd wie ein Hund versuchte ich, mich an der Oberfläche zu halten, doch es wurde von Welle zu Welle schwieriger. Wo trieb ich überhaupt hin? Zurück nach draußen? Oder an den Strand? Ich schlug wild mit den Beinen, wie beim Kraulen, doch ein Wadenkrampf ließ mich vor Schmerz erstarren. Sofort sank mein Körper hinab. Dann geschah es jetzt also doch. Ich ertrank. Falls ich nicht vorher vor Kälte einen Herzinfarkt erlitt.
So oft hatte ich mir gewünscht, im offenen Meer zu baden. Nun war der Tag gekommen und die Erfüllung meines Wunsches würde mit meinem Tod enden.
Doch Moment - was war das unter meinen Füßen? Es gab nicht nach, als ich mich dagegenstemmte. Ich konnte laufen. Das Wasser war gar nicht tief! Die nächste Brandungswelle riss mich nach vorne. Ich überschlug mich und schrammte mit dem Gesicht auf dem Sand entlang, presste jedoch geistesgegenwärtig meine Hände hinein und stemmte mich hoch. Ich war mir sicher, dass eine Leistungsschwimmerin anders an den Strand gelangen würde, doch ich hatte die Kraft, mich umzudrehen und Nielsen erneut zu winken.
»Mir geht´s prima!«, brüllte ich und würgte hustend Salz und Sand hervor. Und eine winzige Muschel. Nielsen zögerte, den Rettungsring noch in der Hand und bereit, zu mir zu fahren und ihn mir zuzuwerfen. Ich reckte den Daumen nach oben und wedelte eifrig mit meinen Armen (ich fühlte sie nicht mehr, aber ich sah, dass sie taten, was ich wollte), um ihm zu bedeuten, dass er verschwinden konnte. Endlich tat er es. Aufrecht und strahlend sah ich ihm nach, bis er aus meinen Augen verschwand und ich mich von der nächsten Welle zu Boden werfen lassen konnte.
Nielsen hatte mir geglaubt, dass ich bei Kräften war und mein kurzes Bad im eisigen Ozean überleben würde. Ich war mir dessen jedoch gar nicht mehr sicher. Ich musste die Hütte erreichen, und zwar hurtig. Ganz egal, wie viel Angst sie mir einjagte. Außerdem war Colin nicht hier. Trotz aller platonischer Freundschaft hätte er mich nicht durchnässt und halb erfroren am Strand liegen lassen. Ganz abgesehen davon spürte ich mit all meinen verbliebenen Sinnen, dass er nicht da war. Und mit einigem Erstaunen stellte ich fest, dass meine Panikattacke abebbte. Wie war das noch mal mit dem Sport gewesen? Er gab einem das Gefühl, unbesiegbar zu sein? Nun, besiegbar fühlte ich mich allemal, aber die plötzliche Anstrengung hatte meine Angst zwischenzeitlich zum Teufel geschickt.
Triefend und schlotternd stapfte ich der Hütte entgegen. Noch bevor ich sie erreichte, schleuderte ich den verbliebenen Stiefel von meinem Fuß, weil er mich sowieso nur behinderte. Die Stiege erschien mir unendlich hoch und meine Finger waren so steif vor Kälte, dass ich die Türklinke der Hütte kaum herunterdrücken konnte. Es gelang mir erst, als ich mich mit meinem Ellenbogen darauflehnte.
Wie ich gehofft hatte, war sie nicht abgeschlossen. Wer sollte hier auch einbrechen, wenn schon der Inselversorger Angst hatte, an den Strand zu fahren? Und, oh Himmel, es war warm in der Hütte.
Ich trat die Tür zu und ließ mich an Ort und Stelle auf den Boden sinken. Eine Minute. Nur eine Minute liegen und atmen. Dann würde alles gut werden.
Salva mea
Nein, das würde es nicht. Es würde nicht alles gut werden. Denn wenn ich nur zehn weitere Sekunden tatenlos in meinen nassen Kleidern und dem vollgesogenen Rucksack in Colins Hütte auf den Dielen lag, würde ich erfrieren.
Es war das Gleiche wie beim letzten Mal. Ich musste mich ausziehen. Und doch war alles ganz anders. Ich war alleine. Keine lodernden Blicke auf meiner Haut. Keine Böen, die an den Läden rissen. Sondern mildes Nachmittagssonnenlicht, ein nahezu sanftes Brandungsrauschen und das
Weitere Kostenlose Bücher