Scherbenmond
abermals zuzuschlagen. Paul wird bald Lust auf einen neuen Urlaub verspüren.«
»Wie ... wie lange wird das so gehen? Wie lange tut er das?«, fragte ich mit dünner Stimme. Im Moment löste eine Hiobsbotschaft die nächste ab. Ich hätte gerne laut »Scheiße!« gebrüllt oder irgendetwas zertrümmert.
»Wandelgänger sind fixiert. Eine einzige Nahrungsquelle, deren Träume sie selbst zu bestimmen und zu schaffen versuchen. Es liegt in der Natur des Wandelgängers, das so lange fortzuführen, bis das Opfer nicht mehr kann. Und den Verstand verliert oder«, Colin machte eine kurze Pause, »... stirbt.«
»Wie? Wie stirbt das Opfer? Beim Angriff oder ...?« Ich wagte nicht, meinen Satz zu vollenden. Paul war in Lebensgefahr. Nicht in akuter, da François ihn gerade aufleben ließ. Aber ...
»Kennst du diese Meldungen von plötzlichem Herzstillstand? Viel zu jung im Schlaf gestorben? Hat sich ohne erkennbare Vorzeichen das Leben genommen? Nicht immer sind Wandelgänger der Grund. Aber dann und wann schon.«
»Oh nein ...« Das Zittern nahm mich erneut in seine Gewalt und dieses Mal konnte auch Colin es nicht lindern. »Er ist schon so lange unter Befall, wahrscheinlich mehr als zwei Jahre. Er hat massive Atemprobleme und fühlt sich schwach und schlapp. Seine Gelenke knacken, wenn er sich bewegt. Er ist gerade mal vierundzwanzig!«
»Kann er denn noch lachen?«, fragte Colin vorsichtig.
»Ja. Paul hat einen ziemlich derben Humor, den er anbringt, wann er nur kann. Es ist zwar weniger geworden, aber ab und zu ...« Ich dachte angestrengt nach. Wenn er Die Simpsons guckte, ja, dann lachte er. Auch Tillmann hatte von Pauls Zoten berichtet. Mir selbst gegenüber mimte er weitgehend den fürsorglichen Bruder und ließ nicht viel Raum für Witze. Aber er lachte noch. Und Gianna hatte er mit seinem Humor glücklicherweise eher bezirzt, anstatt sie in die Flucht zu schlagen (wie es ihm bei fast jeder meiner Freundinnen gelungen war). »Doch, er lacht noch. Trotzdem, wir müssen etwas unternehmen, schnell! Du musst etwas unternehmen, Colin! Paul wehrt sich mit Händen und Füßen gegen diese ganze Nachtmahrkacke und ...«
Colin zog tadelnd die Augenbrauen hoch. »Nachtmahrkacke?«
»Du weißt schon. Dass es sie gibt und so weiter. Du musst François erledigen, ihn verjagen, ihn - was weiß ich! Mach ihn fertig! Paul wird uns niemals glauben und er wird sich auch niemals von François trennen. Vielleicht privat, beruflich aber bestimmt nicht.« Ich hoffte auf Colins Widerspruch, doch er blieb aus.
»François sorgt von ganz allein dafür, dass Paul es nicht glauben würde. Außerdem folgen Wandelgänger ihren Opfern. Egal, wohin sie gehen - die Mahre werden auch da sein und irgendeinen Grund finden, weshalb es so richtig ist und sich für die Opfer auch richtig anfühlt. Ein Stalker ist ein Dilettant dagegen.«
»Also bleibt nur der Kampf«, schlussfolgerte ich entschieden. »Oder?«
Colin fuhr grübelnd mit dem Zeigefinger über seine kühn geschwungene Nase. Worüber dachte er überhaupt noch nach? Die Angelegenheit war doch sonnenklar.
»Ich brauche Zeit, um das zu entscheiden. Ich kann jetzt nichts dazu sagen«, antwortete er nüchtern.
»Zeit? Wir haben keine Zeit! Wir müssen handeln! Wie kannst du nur so gefühlskalt bleiben? Hier geht es um meinen Bruder!« Ich konnte nicht mehr auf dem Bett sitzen und so tun, als sei all das nur eine Frage eines korrekten Fazits nach reiflichem Überlegen. Ich musste mich bewegen, wenn ich schon nichts entscheiden konnte und gegenüber François so machtlos war wie eine Ameise unter einem Elefantenfuß. Nervös trat ich ans Fenster und lugte durch die schmalen Ritzen der Rollläden. Die Sonne ging gerade auf und tauchte den Reiterhof in ein warmes rötliches Licht.
Colin lehnte seelenruhig an der Wand, die Lider gesenkt, den rechten Unterarm auf sein Knie gestützt - fast wie eine Statue.
»Wieso unternimmst du nichts?«, rief ich drängend. »Es kann jede Minute zu spät sein!«
»Weil Panik kein guter Ratgeber ist - und abgesehen davon ist sie mir vollkommen fremd. Nein, so einfach ist das nicht, Ellie. Ich muss darüber nachdenken, ob ich in den Kampf ziehe oder nicht.«
»Warum?«, giftete ich. »Weil du Angst hast, dir dabei die Frisur zu ruinieren? Weil du etwas Besseres bist? Weil der Herr sich nicht die Finger schmutzig machen möchte? Weil ...?« Meine Kreativität war erschöpft und Blüten hatte sie nicht gerade getrieben.
»Bist du fertig? Oder möchtest
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