Scherbenmond
dann?«, fragte ich sachlich. »Wie gesagt, er gaukelt ein normales Leben vor, isst, trinkt, arbeitet, fährt in Urlaub, macht Erbverträge ... « Was einer gewissen Komik nicht entbehrte, allerdings zulasten von Paul. Denn François würde niemals sterben. Nur erben. Ein erkleckliches Einkommen im Laufe der Jahrhunderte.
»Hat Paul Freunde? Ein gesellschaftliches Leben? Trifft er sich mit anderen?«
»Nein. Nicht dass ich wüsste. Immer nur François.«
Colin strich sich gedankenversunken die Haare aus der Stirn. »Und er ist beruflich und finanziell von François abhängig? Sein Lebensmittelpunkt ist das, was François ihm damit ermöglicht?«
»Ja. Wenn man das so sehen mag, ja. Obwohl ich nicht glaube, dass er François liebt. Tillmann hat gesagt, er würde ihn nicht gerne küssen. Er tut es zwar, aber er wischt sich danach heimlich den Mund ab. Das hat Tillmann beobachtet.« Und ich hatte mich diebisch darüber gefreut.
Colin musterte mich kopfschüttelnd. »Wie stellst du das nur an, Ellie? Wie schaffst du es, die schwierigsten aller Fälle um dich zu scharen? Halbblut, Cambion, eine der Ältesten und Mächtigsten, ein Vergifteter, ein Befallener?«
»Ich denke, es hängt alles irgendwie zusammen«, verteidigte ich mich trotzig. Und so war es auch. Bis auf den sagenhaften Zufall, Colin begegnet zu sein. Ich wollte es lieber Schicksal nennen. Damit konnte ich besser umgehen. Außerdem waren wir aufs Land gezogen, weil Papa eine mahrfreie Gegend suchte. Was für ein kolossaler
Irrtum. Und jetzt verstand ich auch endlich, warum er so aggressiv auf Colin reagiert hatte. Es war nicht nur Sorge um mich gewesen, sondern auch Selbstschutz.
»Dann nenne mir doch bitte den Sechsten im Bunde. Gibt es noch eine Spezies, von der ich nichts wusste? Was ist François?«
Colin seufzte leise. »François ist ein Mahr. Doch er lebt und jagt als Wandelgänger.«
»Wandelgänger. Das bedeutet konkret, dass ...?«
Colin lehnte sich zurück und griff nach meinen Waden, um sie wieder auf seinen Bauch zu betten. Die Märchenstunde konnte beginnen.
»Seine Motivation ist Gier. Wie bei allen Mahren. Doch er fixiert sich auf einen einzigen Menschen, den er möglichst lange aussaugen möchte. Einen Menschen, der vieles verloren hat und doch noch vieles erhofft, dem aber ein festes soziales Netz fehlt. Vielleicht auch die Familie. Das Geschlecht ist dabei nebensächlich. Es hätte auch eine Frau sein können. Aber der Mensch muss beeinflussbar sein, offene Wunden haben. Dort setzt der Mahr an. Wandelgänger nähren nicht nur ihre Gier, sondern auch die Gier ihrer Opfer. Sie züchten ihr eigenes Futter heran. Sie halten ihren Wirt damit so lange wie möglich am Leben. Sie wollen ihn ganz besitzen, Tag und Nacht, am liebsten jede Stunde und Minute, körperlich wie seelisch. Ein vollkommener Befall. Und wenn die Opfer schlafen, greifen sie an.«
Meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich rückte etwas näher an Colin heran. Er ließ ein paar stille Sekunden verstreichen, bevor er fortfuhr.
»François konzentriert sich ausschließlich darauf, Paul hörig und abhängig zu machen. Wenn Paul schwach wird und seine Träume ihre Intensität verlieren, kümmert sich François persönlich um Nachschub. Er nährt sie selbst, indem er Pauls Gier anfacht. Gier nach Dingen, die ihm vorher vielleicht gar nicht wichtig waren.
Aber Paul hat sonst nichts mehr. Auch dafür hat François gesorgt, denn wie alle Mahre weckt er bei den Menschen Misstrauen und Stresssymptome. «
Jetzt wurde mir einiges klar. Die Luxusuhren. Das Versace-Geschirr. Ausgedehnte Saunanachmittage. Designerklamotten. Pauls eBay-Sucht, die ihn letztlich doch nicht befriedigte. Dieses Getriebensein, doch etwas noch Schöneres zu finden, ein neues Schnäppchen zu machen. Der Porsche. Nun, der Porsche war wirklich ein nettes Spielzeug. Aber eigentlich brauchte Paul ihn nicht. Und die Kreuzfahrt ...
»Mein Bruder ist zurzeit mit François im Urlaub. Auf einem Kreuzfahrtschiff. Sie können dort ihre Bilder verkaufen und es sich nebenbei gut gehen lassen. Wir haben zu spät gemerkt, dass François der Mahr ist. Paul war schon auf dem Schiff und Tillmann hat es nicht mehr rechtzeitig runtergeschafft. Er ist jetzt bei ihnen.«
»Tja. Dann werden Pauls Träume gerade aufgefüllt. François gönnt ihm eine Entspannungsphase und sieht lustvoll zu, wie Paul auflebt und sich dadurch noch enger an ihn bindet. Denn François ist derjenige, der ihm all das bietet, um anschließend
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