Scherbenmond
versuchte, sie in Gang zu setzen. Meinem Körper war nicht nach Reden zumute, er verlangte nach allem anderen, nur nicht nach neuen Verrenkungen unserer Gehirne. Aber es musste geschehen. Denn es war fast schon zu friedlich geworden in diesem finsteren, kleinen Zimmer.
»Ich habe meine Entscheidung getroffen«, drang Colins tiefe, reine Stimme durch die Dunkelheit und wie zur Bekräftigung flammte der Docht der Lampe auf und spiegelte sich sofort in seinem schwarzen Blick, ein lauerndes, unruhiges Züngeln. So musste Luzifer aussehen, wenn er einen an der Höllenpforte erwartete. Im
Himmel war es sicherlich langweiliger, doch im Moment lag mir etwas zu viel Spannung in der Luft.
Ich setzte mich auf, unternahm aber keinen Versuch, Colin zu unterbrechen oder gar nach seinem Entschluss zu fragen. Es war sowieso zwecklos. Mein Gaumen war so ausgedörrt, dass ich allenfalls krächzen konnte. Was nur, wenn er sich gegen uns entschieden hatte? Was sollte dann aus uns werden?
»Ich hatte nie eine Familie, die mich geliebt hat und etwas für mich getan hätte. Auch meine Schwester hat mich nicht geliebt. Doch sie hatte Mitgefühl. Irgendwie war ihr bewusst, dass es nicht recht war, ein Baby sich selbst zu überlassen. Sie hat sich zumindest notdürftig um mich gekümmert. Mich gewickelt, mich ernährt, mir ab und zu die Kleider gewechselt. Mich sprechen gelehrt -nicht Englisch, nein. Gälisch. Nur Gälisch. Wie erfunden für Außenseiter. Aber es war eine Sprache und die Tiere mochten sie.«
Er verstummte. Seine Augen wandten sich dem Fenster zu, als würden sie das finden, was damals gewesen war, wenn wir nur die Läden aufschlugen. Auch ich fühlte mich zurückversetzt. Ich hatte ihn gesehen, in meinen Träumen. Ein Säugling mit Perlenaugen, der in einen schmutzigen Trog gebettet war, in Lumpen gehüllt, und mich so aufmerksam ansah, als wisse er um alle Geheimnisse dieser Welt.
»Meine Schwester hat mich nicht geliebt und nicht besser behandelt als das Vieh im Stall. Aber wenn sie noch leben würde und sich in Gefahr befände - in großer Gefahr -, würde ich versuchen wollen, ihr zu helfen. Ich kann mir nur ausmalen, wie es ist, einen Bruder zu haben, der mich liebt. Meine Entscheidung ist also gefallen. Jetzt musst du deine fällen, Lassie.«
»Meine ... aber ... ich habe mich doch schon entschieden«, stotterte ich, hin und her gerissen zwischen Dankbarkeit und düsteren Vorahnungen. Was genau meinte er?
»Du hast es heute früh doch schon selbst angedeutet. Wenn ich in den Kampf ziehe, kann es sein, dass ich dabei sterbe, mein Tod aber zu nichts nütze ist. Dass dennoch Paul nicht gerettet werden kann, vielleicht sogar getötet wird und möglicherweise auch Gianna, Tillmann und du. Dessen musst du dir bewusst sein. Mein Tod ist am wahrscheinlichsten. Pauls Chancen zu überleben stehen etwas besser. Wie deine und Tillmanns Überlebenschancen sind, hängt von eurem Verhalten in naher Zukunft ab. Gianna hat die sicherste Position inne. Noch.«
»Oh Gott, ist mir schlecht.« Ich legte die Hand auf meinen Bauch, doch die Übelkeit war überall, strahlte bis in meine Arme aus. Sie schwächte meinen gesamten Körper. »Das muss dir gelegen kommen, oder? Im Sommer wolltest du doch so gerne sterben.« Mir stand nicht der Sinn nach Streit und schon gar nicht nach Vorwürfen. Es war ein hilfloser Versuch, meine Panik einzudämmen.
»Ich sterbe aber nicht gerne in dem Bewusstsein, dass du und Paul mir folgen werdet, weil François in seiner Raserei alle vernichtet, die irgendwie mit ihm zu tun haben. Dass mein Tod den anderer nach sich zieht. Insofern bin ich dieses Mal durchaus interessiert daran zu überleben. Und zu siegen.«
»Oh, gut. Das ist ja immerhin etwas.« Dann brach meine aufmüpfige Abwehr mit einem Mal in sich zusammen. An das, was Colin hier andeutete, hatte ich bisher keinen einzigen Gedanken verschwendet. Ich war davon ausgegangen, dass Colin stärker war als François. François war schließlich nicht Tessa. Und jetzt ... jetzt erfuhr ich, dass mein Wunsch mein Verderben sein sollte?
»Es wäre mir eine Ehre, mich von dir in den Tod schicken zu lassen«, sagte Colin mit liebevoller Ironie. »Es wäre nur schön, wenn er euch auch etwas nützt. Trotzdem - du lässt mir keine Wahl, oder?«
Mir wurde schlagartig eiskalt, als ich begriff, dass er recht hatte. Ich konnte ihm keine Wahl lassen.
»Aber was soll ich denn sonst tun?«, rief ich verzweifelt. »Ich kann doch nicht zusehen, wie mein Bruder
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