Scherbenmond
langsam vor sich hin stirbt, das kann ich nicht! Was hätte ich denn davon? Nichts! Ich kann nicht auf Kosten anderer lieben. Ich muss das Risiko eingehen, dass du stirbst, auch wenn es mich innerlich umbringt!« Ich griff an meine Brust, in der der Schmerz blind wütete, als würde ich Colin morgen schon verlieren. Oder heute Nacht noch.
Colin nickte. »Ich habe gehofft und befürchtet, dass du so entscheidest. Und ich bitte dich zunächst nur um eines: Bleib bei Verstand und hör mir gut zu. Ich werde dir gleich ein paar Dinge über den Kampf erzählen, die du dir merken musst. Hast du vorher noch Fragen?«
Er redete mit mir, als bereiteten wir uns auf einen militärischen Einsatz vor, der nicht im Geringsten unsere Gefühle tangierte. Sachlich und ruhig. Und sehr bestimmend - obwohl seine Augen unentwegt glimmten und flackerten. Doch seine Beherrschung half mir, meine Erregtheit im Zaum zu halten.
»Ja. Ja, die habe ich. Wenn ihr tötet ... also, wenn ihr Menschen tötet: Wie macht ihr das eigentlich? Gibt es bestimmte ... Techniken? Ich frage nicht nur wegen Paul. Ich frage auch wegen Papa.« Ich sah Colin herausfordernd an.
»Ich weiß es nicht. Ich habe noch nie einen Menschen getötet. Und ich habe mir nie konkrete Gedanken darüber gemacht, wie ich es anstellen sollte. Wahrscheinlich menschlicher, als du glaubst. Wir haben enorme Kräfte, deshalb würde es uns nicht viel Mühe kosten. Weniger Mühe als euch. Aber die Methoden wären wohl ähnlich.«
»Du hast also noch nie ... getötet?« Ich war erleichtert und beunruhigt zugleich, das zu hören. »Weder einen Menschen noch einen Mahr?«
»Nein. Bist du jetzt enttäuscht?« Colin schmunzelte. »Ich habe versucht, Tessa zu töten. Davon habe ich vorerst genug. Ansonsten ist mein Gewissen rein. Es gab Situationen, in denen ich gerne einen Menschen oder mehrere getötet hätte - du weißt, wovon ich rede -, doch ich war zu schwach dazu.«
»Du hast also keine Erfahrung im Töten?«
»Mahre töten Menschen höchstens aus Futterneid oder weil die Menschen sie bemerkt haben. Ich habe dafür gesorgt, dass sie mich nicht bemerkten, als ich mich noch von Menschenträumen ernährte. Und meinen Futterneid habe ich im Griff.«
»Okay«, sagte ich langsam. »Keine Erfahrung. Keinen Mahr und keinen Menschen getötet. Ich bin froh deswegen, wirklich froh. Aber ...«
Colin begann erneut zu schmunzeln, als er meine unschlüssige Miene studierte. Ich musterte ihn prüfend.
»Verdammt uncool, dein Meister der Finsternis, was?« Colins Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. »Habe ich jetzt an erotischer Anziehungskraft eingebüßt?«
»Äh, nein«, bemühte ich mich hastig, mein Gaffen zu entkräften. »Ich dachte nur, dass ein Dämon ... dass das Töten ...«
»... seine Bestimmung und ihm ein Leichtes sei? Mag sein. Das will ich nicht bestreiten. Ich bräuchte bei dir zwei Sekunden, maximal drei.«
Reflexartig rückte ich ein Stück nach hinten an das Kopfende des Bettes. Colin beobachtete mich entspannt, doch seine Belustigung verblasste schnell.
»Weißt du, Ellie, ich erinnere mich nur zu gut daran, wie meine Mutter in den ersten Wochen meines Lebens immer wieder versucht hat, mich in Eiseskälte auf einem Feenhügel auszusetzen. Und ich erinnere mich ebenso an ihr entsetztes Gesicht, das mir entgegenblickte, wenn sie mich am nächsten Morgen fand und ich immer noch lebte.«
»Sie hat dich ausgesetzt?« Plötzlich kamen mir die Bilder in den
Kopf, die mich heimgesucht hatten, als Dr. Sand mir seine Patienten gezeigt hatte. Colin als Baby auf der Kuppe eines Hügels, Schneeflocken auf seinem Gesicht ... Ganz alleine und verloren.
»Oh, es war eine ihrer liebsten Freizeitbeschäftigungen. Sie hoffte, das kleine Volk würde mich gegen das richtige Kind austauschen. Du weißt doch, sie hielt mich für einen Wechselbalg. Und sie wünschte sich klammheimlich, ich würde dabei endlich draufgehen. Den Mumm, mich eigenhändig zu töten, hatte sie nicht.«
Das war zu viel. Dass Colin sterben konnte, wenn wir versuchten, Paul zu retten. Dass ich Gianna mit hineingezogen hatte. Dass mein Vater auf einer Todesliste stand. Dass Colin als Baby auf einen Hügel gebracht und dort alleine zurückgelassen wurde und alles mitbekam, alles ... Sich an jedes Detail erinnern konnte, an die Kälte und die Einsamkeit und den Hass der Frau, die ihn geboren hatte. Wer konnte ihn dafür anklagen, Tessa erlegen zu sein? Ich konnte es nicht mehr.
»Das durfte sie nicht tun.
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