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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Sie hätte das nicht tun dürfen!«, schluchzte ich.
    »Sie ist lange tot. Ich lebe noch. Vielleicht eine Art Gerechtigkeit.« Colin hob schicksalsergeben die Schultern. »Wer weiß das schon? Möchtest du sonst noch etwas wissen?«
    »Ja. Du hast gesagt, Tillmann wäre vergiftet. Hat jeder Mahr ein Gift, das er überträgt?« Ich suchte betont umständlich nach einem Taschentuch, doch offenbar verspürte Colin gerade keinen Appetit auf meine Tränen.
    »Nein. Ich könnte mir vorstellen, dass nur jene Mahre ein Gift in sich tragen, die als Menschen bereits niederträchtig und böse waren und krank dazu. Und somit die Metamorphose dankend angenommen haben.«
    Ich musste an den langen, kalten Winter denken. An meine schwere Bronchitis, die Grippeepidemie im Dorf ... War es vielleicht sogar ein Erreger aus ferner Vergangenheit gewesen? »Nachdem Tessa verschwunden ist, ist bei uns unter anderem Hepatitis ausgebrochen. War sie das?«
    »Wir übertragen keine Bakterien und Viren, Ellie. Sie finden in unseren Körpern keinen Nährboden. Wir können höchstens eure Abwehr schwächen und auch das nur indirekt, indem unsere Gegenwart euch unter extremen Stress setzt. So wie ich es bei dir getan habe im Sommer. Aber wir selbst können nicht krank werden.«
    »Bin ich denn jetzt bezüglich Krankheiten stärker gefährdet? Also, weil ich in deiner Anwesenheit permanent unter Stress stehe?«
    Colin seufzte tief. »Oh Ellie, ich weiß wirklich nicht, ob ich dabei noch eine Rolle spiele. Ich glaube, du hattest auch ohne mich schon mächtig Stress, oder? Gestern Abend hast du jedenfalls nicht gestresst gewirkt, obwohl ich dir sehr nahe war. Um nicht zu sagen, in dir ... Kränklich hat es dich kaum werden lassen. Du hast gekämpft wie eine Göttin, gegen dich und gegen mich. Glücklicherweise erfolglos.«
    Ich errötete binnen Sekunden. Gestern Abend. Oh ja. Ich hatte mich wahrhaftig heroisch gefühlt und gleichzeitig war mein Körper wie Wachs gewesen. Noch etwas mehr Hitze, und meine Knochen wären geschmolzen.
    »Okay, nächste Frage«, unternahm ich einen neuerlichen Versuch, mich zurück auf den Pfad der Vernunft zu begeben, auch wenn ich mir dabei ein bisschen wie in der Schule vorkam. Ja, ich wollte Colin um Rat fragen und ich brauchte ihn für das, was wir vorhatten. Doch ab und zu war ich es überdrüssig, mir von ihm die Welt erklären lassen zu müssen. »Du hast gesagt, das Geschlecht des Opfers ist bei einem Wandelgänger nebensächlich. Also sind weder François noch Paul schwul?«
    »Ein Wandelgänger sucht nach Menschen, die er formen kann und deren Träume nach seinem Geschmack sind. Das können Männer oder Frauen sein - jung, alt, erfahren, unerfahren, wie es ihm am besten mundet. Entscheidend ist, dass sie keinen Halt haben. Wandelgänger fallen in die entsprechende Rolle, die es braucht, um das Privatleben dieser Menschen zu beeinflussen. Und sie machen ihnen glaubhaft, dass es genau das ist, was sie wollen. Es geht nicht um das Geschlecht, sondern um das Besitzen.«
    »Wenn das mit Paul und François öffentlich würde, wären wahrscheinlich etliche Eltern davon überzeugt, dass ihr homosexueller Sohn oder ihre lesbische Tochter von einem Wandelgänger befallen ist«, schlussfolgerte ich. »Und nur deshalb das eigene Geschlecht liebt.«
    »Was völliger Unfug wäre. Genau das ist der Knackpunkt, Ellie. Es gibt Menschen, die werden tatsächlich depressiv, haben Konstitutionsschwierigkeiten, schlafen schlecht oder gar nicht und es ist kein Mahr in ihrer Nähe. Und es gibt Menschen, bei denen werden all diese Symptome durch einen Mahr hervorgerufen. Sollte das Wissen um die Mahre verbreitet werden, bräche eine Hysterie aus, die ihresgleichen suchen würde. Es würden Hexenjagden beginnen.«
    Ich schwieg bedrückt. Beinahe war ich dankbar, dass Gianna nur über Senioren und Tiere schrieb. Eine Journalistin anderen Kalibers hätte sich vielleicht längst auf den Nachtmahrstoff gestürzt und würde die Zeitungen mit wilden Berichten versorgen. Am Ende wäre Colin dabei verraten worden und sie würden wieder Versuche mit ihm machen ... Nein. Die Zeit war noch nicht reif dafür, wie Dr. Sand gesagt hatte. Möglicherweise würde sie das niemals sein.
    »Du musst im Kleinen beginnen, Ellie. Und das ist groß und mächtig genug. So mächtig, dass es dich vernichten kann. Können wir jetzt über die Vorbereitungen sprechen?« Colin lehnte sich rücklings an das Fenster, doch ich blieb sicherheitshalber auf dem Bett sitzen.

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