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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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zerrte und an sich riss - ohne mir wehzutun, doch das kam nicht mehr in meinem Kopf an.
    »Lass mich ...«, keuchte ich, unfähig, mich zu rühren.
    »Wer hat dir Gewalt angetan? Wer?«
    »Er hat nicht... Er wollte das nicht...«
    »Wer? Dein Vater?« Colin sprach leise und doch brüllte seine Stimme in meinem übervollen Kopf.
    »Nein ... nicht Papa ... Paul. Es war Paul.«
    Ich konnte wieder atmen. Colin ließ mich los. Überrascht stellte ich fest, dass mir nichts fehlte. Und sein Blick sah nicht so aus, als habe er das je beabsichtigt. Er wirkte vielmehr verwirrt und fragend. Und ein wenig vorwurfsvoll.
    »Ich hab Paul provoziert, aber nur weil ich die Wahrheit herausfinden wollte, und daraufhin ist er ausgerastet«, erklärte ich beflissen. »Er hat so etwas noch nie vorher gemacht, nie, ich schwöre es! Paul ist kein Gewalttäter!«
    »Ist ja gut. Komm her. Ich tu dir nichts, verdammt, Lassie, bilde dir das bloß nicht ein. Ich glaube dir, dass Paul kein Schlägertyp ist. Das kommt durch den Befall und ist eine Art Verteidigungsstrategie seiner Seele. Eigentlich ein gutes Zeichen. Trotzdem solltest du beim Herausfinden der Wahrheit in Zukunft dein Temperament ein wenig zügeln.«
    Erst jetzt sah ich, dass die Lampe an der gegenüberliegenden
    Wand niedergegangen war, weit weg von mir. Es war mir so vorgekommen, als hätte sie mir gegolten, mich treffen sollen. Einen Moment lang hatte ich Colin vollkommen misstraut. Er nahm mich mit sich aufs Bett, ließ sich auf den Rücken fallen und bettete mich an seine Brust, um gleich darauf die Arme hinter seinem Kopf zu verschränken. Sicherheitsabstand. Ich schnupperte wie ein Trüffelschweinchen an seiner Achselhöhle, obwohl mein Herz immer noch floh und stolperte.
    »Also gut.« Das Rauschen in Colins Brust wurde unruhiger. »Ich weiß, dass du es nicht hören willst. Aber bevor deine Fantasie sich ein Szenario nach dem nächsten ausmalt: Ich habe sie gerufen. Ich kann sie rufen, wenn ich in Gefahr bin oder in einer ausweglosen Lage. Gewissermaßen die positive Seite des Fluchs. Und ich wusste mir keinen anderen Rat, als genau das zu tun. Du hast nur einen Teil des Ganzen gesehen, Ellie. Einen kleinen Teil. Ich will mein Verhalten nicht schönreden. Aber hätte Tessa mich nicht herausgeholt und wäre ich so lange dringeblieben, bis der Krieg vorbei gewesen wäre, würde ich nur noch Angst und Schrecken verbreiten. Tag und Nacht. Ich wäre das Böse in Person. Es wäre auf mich übergegangen - nahtlos.«
    Ich schwieg schockiert. Immer wieder schossen Wellen der Abwehr durch Colins Brust, als wolle er mich ermuntern, mich von ihm abzuwenden, ja, ihn vielleicht sogar zu schlagen, und doch ließ er mich bei sich ruhen.
    »Ich bin enger mit Tessa verbunden, als ich je wollte. Diese dunklen Zeiten kamen ihr gerade recht. Sie hat davon profitiert. Denn durch ihre Rettung ist ihr Gift stärker geworden und die Macht, die sie über mich hat, auch. Weil ich sie gerufen habe.«
    Und ich hatte ihr zu verdanken, dass ich Colin lieben konnte. Dass er nicht durch und durch böse geworden war. Auf der anderen Seite wäre er möglicherweise für immer in Schottland geblieben, wenn
    Tessa nicht gewesen wäre. Er hätte nicht fliehen müssen. Ich stützte meine Arme auf Colins Brust, um ihn ansehen zu können.
    »Kannst du mich jetzt berühren oder ist es zu gefährlich?«
    »Ich kann. Wir sind doch beide nicht glücklich, oder?«
    »Dann tu es. Bitte. Bitte fass mich an. Glück ist nicht alles.«
    Ich wartete, bis er sich dazu entschließen konnte und seine Hände zögerlich über meinen Rücken fuhren, erst über, dann unter meinem Pulli, bis er die Unterarme überkreuzte und seine kühlen Finger sanft um meine nackte Brust legte.
    »Ich möchte nicht wissen, was du dafür tun musstest. Es spielt keine Rolle, Colin. Sie bestimmt unser Leben, aber in unserem Bett hat sie nichts verloren. Okay?«
    Er antwortete nicht, doch das Rauschen in seinen Venen fand nach und nach zu seiner Gleichmäßigkeit zurück und für eine Weile schloss ich die Augen und ließ mich von ihm davontragen. Es hörte sich an wie das Echo meines eigenen Bluts in einer dieser großen Muscheln, die Papa aus der Karibik mitgebracht hatte. Es versetzte mich in andächtiges Staunen.
    Wir blieben liegen, bis die Dunkelheit sich nahezu jeder Ecke des Zimmers bemächtigt hatte. Colin wand sich mit einem bedauernden Seufzen unter meinem warmen, schweren Gewicht hervor, sammelte die Einzelteile der Petroleumlampe auf und

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