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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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kritisch meine Beine, fasste an meine Oberarme und drückte prüfend gegen meinen Rücken.
    »Und? Orangenhaut gefunden?«, fragte ich giftig und riss ihm das Oberteil aus der Hand.
    »Nein. Aber auch keine ausgeprägten Muskelpartien. Hast du in den vergangenen Monaten Sport gemacht?«
    »Oh. Tut mir leid. Das habe ich ja ganz vergessen! Stimmt! Ich hätte zwischen meiner Bronchitis, meinem Abitur, dem Verschwinden meines Vaters, deinem Erinnerungsraub und all den Mahrangriffen auf meinen Bruder noch Marathon laufen sollen! Wie konnte ich nur so nachlässig sein!«
    »Also nicht.« Colin nahm den Gürtel, schlang ihn um meine Taille und zeigte mir, wie ich ihn verknoten sollte. Es war natürlich kein normaler Knoten, sondern irgendein Spezial-Karate-Dojo-Knoten, den ich niemals selbst würde herstellen können. Aber er musste genau so und nicht anders geknotet werden, weil sonst vermutlich in China ein Reissack umfiel.
    »Ich sehe aus wie das Michelinmännchen«, meckerte ich, als er endlich fertig war und ich mein Spiegelbild in der Scheibe der Balkontüren betrachtete.
    »Es spielt keine Rolle, wie du aussiehst«, erwiderte Colin ruhig. »Und zum Thema Sport: In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist.«
    »Oh Colin, bitte!«, explodierte ich. »Komm mir nicht mit solchen abgedroschenen Binsenweisheiten! Ich hab früher auch Sport gemacht und mein Geist war nicht viel gesünder als jetzt! Dieser ganze Sportwahn kotzt mich an und ich hab echt anderes im Sinn. Soll ich von nun an jeden Tag joggen gehen, oder was? Wie blöd müssen die Menschen eigentlich sein, um das zu tun! Der arme griechische Bote hatte kein Pferd und ist die ganzen beschissenen zweiundvierzig Kilometer nach Marathon gerannt - nicht weil er das wollte, sondern weil er musste. Er kommt an, fällt um und stirbt. Klasse. Und was machen die Menschen? Eifern ihm nach! Die haben das total falsch verstanden! In einem Auto wäre ihm das nicht passiert!«
    Colins Mund zuckte und er wandte sich ab, bis er seine stoische Gleichmütigkeit zurückerlangt hatte und mich direkt ansah.
    »In Ordnung. Deshalb machen wir ja auch Karate und kein Marathontraining. Ich halte Marathonlaufen ebenfalls für Humbug, falls dich das beruhigt. Unser Körper ist zum Laufen konstruiert, aber für den Anfang reichen auch zwanzig Kilometer. Wenn du jetzt die Güte hättest, mich nach unten zu begleiten?«
    »Und was ist damit?« Ich deutete auf meine nackten Füße.
    »Was soll damit sein? Kampfsport wird barfuß trainiert.«
    »Da draußen hat es ungefähr zehn Grad!« Wieder verschränkte ich meine Arme. »Mir ist jetzt schon kalt!«
    »Du wirst nicht daran sterben, Ellie. Bitte überstrapaziere meine Geduld nicht. Je länger du die Sache hinauszögerst, desto schlechter sind wir vorbereitet.«
    Er drehte sich um, öffnete die Tür und lief die Stiege hinunter. Dann stellte er sich an den Strand und wartete auf mich. Und ich fand es albern, hier oben zu bleiben und zu trotzen wie ein kleines Kind. Weglaufen konnte ich auch nicht. Die Insel war winzig. Es gab nicht einmal eine Düne, die groß genug war, um sich dahinter verstecken zu können. Was immer er mit mir vorhatte - ich war ihm ausgeliefert. Und hatte ich das eben richtig verstanden - es sollte zu unserer Vorbereitung dienen? Etwa für den Kampf gegen François? Was hatten meine nicht vorhandenen Muskeln damit zu tun?
    »Verbeugen«, befahl Colin, als ich mich ihm gegenüber auf dem feuchten, kalten Sand positioniert hatte.
    »Bitte was?«
    »Ich möchte nicht über jedes Wort diskutieren. Verbeugen. Zeige Respekt.«
    »Vor wem - vor dir? Vor der Insel? Gott? Was soll dieser Mist?« Langsam wurde ich wütend, doch es verwirrte mich, dass diese Wut auch mir selbst galt und nicht nur ihm.
    »Respekt vor mir wäre ein guter Anfang. Ich bin dein Sensei. Und auch ich verbeuge mich vor dir.« Colin kreuzte die Arme vor der Brust und neigte kurz, aber voll stiller Achtung seinen Kopf. Ein sanfter Schauer rieselte über mein Rückgrat. Dann richtete er sich auf, nahm die Arme wieder nach unten und positionierte die Fäuste rechts und links neben seinen Hüften.
    »Hattest du nicht gesagt, Tiger and Dragon sei dein Lieblingsfilm? Und du willst dich schon der allerersten Lektion verweigern?« Seine Stimme war wie Samt, sein Tonfall jedoch unerbittlich. Verdrießlich ahmte ich seine Verbeugung nach.
    »Das war eine billige Theatervorstellung. Noch einmal. Wenn du keinen Respekt vor mir zeigst, dann wenigstens vor dir

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