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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Rücken wurden warm und dehnbar, das Knacken in der Wirbelsäule verstummte, und so versuchte ich mich an einer meiner früheren Ballettspezialitäten, indem ich im Stehen das Bein neben dem Ohr in die Höhe streckte. Ich war sicher nicht die niedlichste Ballerina gewesen zwischen all den Püppchen, doch darin hatte mir keines der anderen Mädchen das Wasser reichen können. Jetzt aber geriet ich ins Schwanken und ließ mich auf den Hintern plumpsen, bevor Schlimmeres geschehen konnte, und sah aus den Augenwinkeln einen dunklen Schatten über den Wellen auftauchen. Colin. Mal wieder genau im richtigen Moment.
    Die Möwen umschwirrten kreischend sein Haupt und stahlen sich kleine Muscheln und anderes Getier aus seinen züngelnden Haaren, als er wie Neptun persönlich, die Augen grellgrün im Licht der Sonne, der Brandung entstieg. Ich wagte nicht, mich zu rühren, obwohl der Oberschenkel neben meinem Ohr zu zittern begann.
    »Du bringst mich auf kreative Gedanken«, bemerkte Colin spöttisch, nachdem er neben mich getreten war, doch das anzügliche Flackern in seinem Jadeblick erlosch so schnell, wie es gekommen war. »Können wir weitermachen?«
    Ich brachte mein Bein in eine vernünftige Position - es kostete mich immense Selbstbeherrschung, dabei nicht aufzujammern, denn die Ballettstunden lagen lange, sehr lange zurück - und stellte mich ihm gegenüber. Dann kreuzte ich die Arme vor der Brust und verbeugte mich minimal. Mehr war ihm heute nicht gegönnt.
    Wir trainierten, bis ich Colin in der Dunkelheit kaum mehr wahrnehmen konnte und meine Muskeln von einem Krampf in den nächsten wechselten. Doch ich beschwerte mich nicht. Er sollte keinen Grund bekommen, mich zurechtzuweisen. Und er ging nicht zimperlich mit mir um. Ich lernte die wichtigsten Grundtechniken: den Faustschlag, zwei Abwehrbewegungen, zwei Fußtritte, wovon einer mir jedes Mal die Hüfte auszurenken drohte. Am Schluss griff er mich in kurzen Zweikämpfen an, um meine Reaktionen zu testen. Nicht nur einmal traf seine Faust meinen Bauch, doch er hatte mir beigebracht, wie ich atmen und meine Muskeln anspannen musste, um dabei nicht verletzt zu werden. Ich sagte kein Wort. Ich hörte nur zu. Es fiel mir schwerer als alles andere, was er von mir verlangte, und ich würde dieses ganze Theater auch nicht ohne Diskussion auf mir sitzen lassen.
    Vorerst jedoch kam ich am schnellsten aus der Nummer heraus, wenn ich mich fügte. Und ich musste widerwillig zugeben, dass Colin ein ausgezeichneter Lehrer war. Seine Anweisungen waren präzise, und wenn er meine Haltungen und Bewegungen korrigierte, berührte er mich nur beiläufig und keine Sekunde länger als nötig. Immer wieder brachte er mich an meine Grenzen und legte kurze Pausen ein, wenn meine Motorik schwammig wurde.
    Ich dachte, das Training würde nie enden. Meine Fingerknöchel bluteten, meine Bauchmuskeln schmerzten von den vielen Schlägen, meine Unterarme waren übersät von blauen Flecken und all die Steine und Muscheln im Sand hatten meine blanken Fußsohlen aufgeschürft. Meine Fäuste zitterten, als Colin mich zu einer weiteren Schlagfolge aufforderte, sie synchron mit mir lief, Faustschlag, Schritt, Faustschlag, Schritt, Faustschlag. Meine Bewegungen wurden unkontrolliert und beim letzten Schritt stolperte ich. Doch ich blieb stehen. Ich fiel nicht.
    Dann signalisierte er mir endlich, dass ich entlassen war. Einige Minuten noch saßen wir auf den Knien im Sand, die Augen geschlossen. Ich konnte nichts mehr denken. In meinem Kopf herrschte eine leere, flimmernde Wüste. Ich schien nur aus Schmerz und Erschöpfung zu bestehen.
    Colin ging mir voraus zur Hütte und ich musste mich an dem Geländer der Stiege festklammern, um die Stufen nehmen zu können. Meine blutenden Sohlen schleiften über das rohe Holz, denn heben konnte ich meine Füße nicht mehr. Als ich die letzte Stufe überwunden hatte und in die Hütte getreten war, zündete Colin bereits die Kerzen eines mehrarmigen Leuchters an. Er wirkte nicht ansatzweise angestrengt - nein, er sah erfrischt und ausgeruht aus.
    Es hatte ihn belebt. Ich hingegen hatte das Gefühl, dringend mein Testament aufsetzen zu müssen.
    Ich lehnte mich schwer atmend gegen die Wand und schaffte es kaum, den Knoten meines Kimonos zu lösen, den ich so sehnlichst von meiner schweißnassen, brennenden Haut streifen wollte. Meine Finger waren steif und unbeweglich. Ich brauchte mehrere Versuche, bis es mir glückte, und ich konnte ein gedämpftes Stöhnen nicht

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