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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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richtete. Sie hob etwas auf und drehte es neugierig hin und her. Es kam mir bekannt vor. Überall lagen diese Schachteln auf dem Boden - mindestens fünfzig Stück. Ich hatte sie schon einmal gesehen, kleine, eckige Packungen mit einem roten Totenkopf auf der Rückseite ...
    »Nicht, Gianna! Wirf das weg!« Ich holte aus und fegte ihr mit einem Schlag die Faltschachtel aus den Händen. »Da ist Thalliumsulfat drin! Rattengift!«
    »Ich bin keine Ratte.« Gianna hickste nervös.
    »Ja, aber das Zeug ist uralt! Das benutzt heute niemand mehr, weil es auch Menschen flachlegen kann. Es ist schon lange verboten. Nimm das!« Ich wühlte in meinem Rucksack, fand, was ich suchte, und zerrte ihr Schutzbrille und Atemschutzmaske über den Kopf, beides aus Pauls Werkkammer entnommen. Wie hatte Dr. Sand gesagt? Ich hätte einen guten Instinkt. Nun, das hier war beinahe schon Prophetie gewesen, wobei mein Chemielehrer und seine Vorliebe für tödliche Substanzen auch nicht unerwähnt bleiben sollten. Rasch versorgte ich mich ebenfalls mit Schutzbrille und Maske. Gianna blickte mich panisch an.
    »Bin ich jetzt vergiftet?«
    »Weiß nicht. Ich glaub nicht. Aber wenn deine Augen anfangen zu brennen und dir schlecht wird ...«
    »Noch schlechter?«, quietschte Gianna. »Ich könnte jetzt schon auf den Boden kotzen!«
    »Bitte mach das nachher, wenn wir draußen sind. Wir dürfen keine Spuren hinterlassen. Komm.« Ich packte sie an der Hand und zog sie durch den Gang.
    »Verriegelt. Vorhängeschloss. Sinnlos.« Gianna wollte kehrt-machen, doch ich stellte ihr ein Bein, sodass sie nach vorne kippte und sich an mir festkrallte, um nicht in die Rattengiftschachteln zu fallen.
    »Bleib hier. Verstanden? Den Riegel kann man abschrauben und nachher wieder dranschrauben. Wir haben ja Zeit.« Ich kniete mich hin und suchte nach dem passenden Schraubenzieher, doch jeder, den ich dabeihatte, war zu groß.
    »Warte, das geht auch anders.« Gianna zog einen breiten, verstellbaren Ring von ihrem Finger, bog ihn auf und benutzte die spitze Kante, um die Schräubchen zu lösen. Kurze Zeit später fiel der gesamte Riegel samt Schloss klirrend zu Boden. Im gleichen Moment drang ein gequältes Winseln unter der Tür hindurch.
    Auch Gianna hatte es gehört. Wir wagten nicht zu sprechen. Für eine Sekunde wollten wir umdrehen und flüchten, wandten uns gleichzeitig zur Seite, doch dann fingen wir uns wieder und blickten uns stumm an. In einer anderen Situation hätte ich über Giannas Anblick lachen können. Die Schutzbrille stülpte ihre Nasenlöcher nach oben und ihre Haare sahen aus wie die von Rudolf Mooshammer (laut Gianna auch befallen), weil das Band sie zu einem schwarz glänzenden Turm formte. Aber ich machte wahrscheinlich keine bessere Figur.
    Ich streckte meinen Arm aus und tippte vorsichtig mit dem Zeigefinger gegen die Tür. Sie rührte sich nicht. In einem plötzlichen Anfall von Zorn - das Tier in meinem Bauch war wieder erwacht -trat ich gegen das morsche Holz und sie schwang auf.
    Der Gestank überfiel uns mit solcher Gnadenlosigkeit, dass wir uns würgend und hustend nach vorne krümmten. Selbst die Schutzmasken konnten nichts gegen den Geruch ausrichten. Deshalb bemerkten wir die Ratten nicht sofort, die in Scharen über unsere Füße wuselten und auf den Gang hinausflüchteten - doch als wir sie registrierten, schrien wir auf und sahen uns entsetzt um. Eine
    Ratte war schon auf Giannas Hose gekrochen. Ich packte sie am Schwanz und schleuderte sie von uns weg. Doch auch an mir hingen sie, am Rücken und auf meinen Schuhen, und wenn mich nicht alles täuschte, war eine gerade damit beschäftigt, sich in meiner Kapuze ein gemütliches Nest einzurichten.
    Hysterisch begannen Gianna und ich, gegenseitig auf uns einzuschlagen und mit den Beinen zu zappeln, um die Tiere wieder loszuwerden, und nicht einmal unsere Schreie übertönten ihr aufgebrachtes Quieken und Kreischen. Doch sie wehrten sich kaum. Innerhalb weniger Sekunden hatten wir sie vertrieben. Mit einem Wimmern am Rande des Wahnsinns klopfte Gianna ein letztes Mal ihren Parka ab und schüttelte ihre Haare aus. Ich zwickte mich brutal in den Arm, um nicht vom Ekel übermannt zu werden. Durch den Mund atmete ich vorsichtig ein. Ich musste etwas sagen, damit Gianna nicht flüchtete. Noch war sie zu gefangen in ihrer eigenen Angst, um auch nur einen Schritt nach vorne zu machen.
    »Es sind nur Ratten«, predigte ich in erzwungener Ruhe. »Normalerweise beißen sie nicht. Und sie

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