Scherbenmond
greifen auch nicht an. Sie wollen frische Luft schnappen, das ist alles. Wir standen ihnen ein bisschen im Weg.«
»Natürlich, natürlich«, pflichtete Gianna mir heiser bei. »Verstehe ich. Klar.« Auch wenn die Ratten das wahrscheinlich nicht so sahen - es war kaum vorstellbar, dass irgendein lebendiges Wesen hier freiwillig Zeit verbringen wollte. In dem Gewölbekeller war kaum Platz, aufrecht zu stehen oder sich gar zu bewegen. Der Müll stapelte sich bis zur ohnehin niedrigen Decke - bergeweise Papiere, Plastikpackungen, Essensreste, vergammelte Pizzastücke, halb leere Flaschen, in denen der Schimmel grün wucherte, schmutzige Klamotten, dazwischen brüchige Regale und Schränke, zum Bersten voll mit unnützem Krimskrams, alles dick überzogen mit Rattenkot und Spinnweben. Gianna rülpste vernehmlich. Auch mir war übel, doch ich zwang mich, den galligen Geschmack in meiner Kehle zu ignorieren, als ich mich genauer umsah. Wieder fiepte es. Dieses Fiepen kannte ich doch ... Und seine Herkunft würde zu dem Geruch nach Scheiße und Ammoniak passen, der uns fast den Atem raubte.
»Oh nein ...«, flüsterte ich und leuchtete in die hintere Ecke, eine finstere Nische unter dem einzigen Fenster dieses Raumes. Tatsächlich - da hockte er inmitten des Unrats und seinem eigenen Kot und Urin, das helle Fell verfilzt und bis auf die Knochen abgemagert. Rossini. Seine Rippen traten spitz hervor, als er erneut winselte und versuchte, sich mit einem fahrigen Tapser von seiner Leine zu befreien. Sie war an einigen Stellen weich gekaut, doch der Hund wirkte auf mich, als habe er sich selbst längst aufgeben. Als gehöre dieses Martyrium unverrückbar zu seinem Leben. So war es vermutlich auch. Er war nicht das erste Mal hier unten. Und das erklärte auch, warum ihn die Ratten so gleichgültig ließen. Sie waren seine Gefährten.
»Du armer, armer Hund.« Ich trat zu ihm, zog den rechten Handschuh aus und streckte ihm meine Finger entgegen. Sein dreckverkrusteter Schwanz schwang sacht hin und her, als er sie ableckte. Zäh und gelb tropfte der Speichel von seinen weißlichen Lefzen. Das Tier stand kurz vor dem Verdursten.
»Elisa ... guck mal hier.«
»Bin gleich wieder bei dir, mein Schatz«, säuselte ich und drehte mich um. Gianna war nicht mehr zu sehen. »Wo bist du?« Ich schüttelte eine letzte Ratte aus meinem Ärmel.
»Hier! Hier, hier, hier ...« Ich folgte ihrer Stimme und gelangte zu einem schmalen Gang zwischen zwei Müllstapeln, der mich in eine erdrückend kleine Höhle inmitten allerhand merkwürdiger Gerätschaften führte, die in meinen Augen keinerlei Zweck erfüllten. Gianna deutete auf einen achteckigen Käfig, der auf einem
Tisch mit Rollen angebracht worden war. Ich äugte hinein. »Oh nein«, entfuhr es mir. Der Boden des Käfigs war mit Zeitungspapier ausgelegt und auf diesem Zeitungspapier lagen vergilbte, auffallend zierliche Knochen. Das Gerippe eines Tieres. Ich tippte auf einen Vogel, wahrscheinlich eine Taube. Auch sie war hier gestorben.
Gianna fegte die Knochenreste hektisch zur Seite. »Das meine ich nicht, Ellie. Schau doch mal auf den Leitartikel!«
Angeekelt zog ich die vergilbte, feuchte Zeitung aus dem Käfig und musterte die in altmodischen Lettern gesetzte Schlagzeile: »Les Tornellis trennen sich.«
Ich überflog den Bericht flüchtig. Ich musste ihn nicht vollständig lesen, um zu verstehen, was Gianna mir bedeuten wollte. Schon der erste Satz brachte Klarheit: »Nach dem plötzlichen Tod seines Bühnenpartners kehrt der Hamburger Illusionist Richard Latt der Zauberbühne den Rücken und sucht sein Glück in den fernen Gefilden der Südsee.«
»Du musst auf das Datum gucken, Elisa! August 1902. Dieser Bericht stammt vom August 1902. Und wer Richard Latt ist, muss ich dir wohl nicht erklären.«
Nein, das musste Gianna nicht. Er war auf dem Foto eindeutig zu erkennen. Trübe Augen, Tränensäcke, gieriger Mund. Wie geschaffen zum Aussaugen und Verschlingen.
»Ich hab es immer gewusst«, ereiferte sich Gianna hektisch. »Zauberer waren mir mein ganzes Leben lang nicht geheuer. Welcher Junge wünscht sich schon einen Zauberkasten? Nur Außenseiter oder Typen, die sowieso nicht ganz dicht sind. Diese Tücherherumfuchtelei und das notorische Verschwindenlassen von Gegenständen hab ich noch nie verstanden. Du?«
Ich war mit meinen Gedanken schon eine Ecke weiter. Ich hatte einen Aktenkoffer gefunden, der zwar ebenfalls Schimmelspuren aufwies, aber eindeutig aus unserem
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