Scherbenmond
gemeint, letztes Jahr hatte er immerhin meinen Vater sprechen wollen. Auch dieses Mal hatte ich zwar Angst gehabt, fühlte mich jedoch auf unerklärliche Weise zu ihm hingezogen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er mir nach dem Leben trachtete - nein, seine Worte hatten sich eher wie eine Warnung angefühlt. Eine Warnung, mit der ich bedauerlicherweise nichts anfangen konnte.
War es vielleicht doch eine Finte - steckte Tessa dahinter? Aber Tessa hatte keinen Grund dazu. Colin und ich waren weder zusammen noch besonders glücklich. Ich hatte Tessa nie sprechen hören, nur grunzen und singen, eines schauderhafter als das andere. Ich wusste nicht einmal, ob sie sprechen konnte. Als sie im Traum - in Colins Erinnerungen an seine Metamorphose - geredet hatte, hatte ich das Gefühl, ihre Stimme erklänge nur in meinem Kopf. Als höre ich ihre Gedanken. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass sie in der Lage war, ein Telefon zu bedienen. Tessa arbeitete nicht mit dem Verstand, sie folgte nur ihrer Gier und ihren Instinkten.
François wiederum war auf dem Schiff und seine Stimme klang gänzlich anders als die des Anrufers. Er konnte ebenfalls nicht dahinterstecken. Es sei denn, er hatte schon lange Lunte gerochen und andere Mahre auf mich gehetzt. Auch das war jedoch nicht einleuchtend, da Mahre sich laut Colin bei der Jagd nicht gerne verbündeten. Wandelgänger schon gar nicht.
Keine dieser Schlussfolgerungen konnte mich nachhaltig beruhigen, denn zu jeder Regel gab es auch eine Ausnahme. Meine Logik hatte ihren Einfluss auf meinen Bauch an eine höhere Instanz abgegeben. Und weil ich nichts und niemandem mehr traute, meldete ich mich auch nicht bei Gianna zurück. Es war nicht so, dass ich ihr gegenüber einen Argwohn hegte - nein, ich wollte einfach sichergehen, keine Spuren zu hinterlassen, die entdeckt werden könnten. Es schien mir denkbar, dass Mahre eine Art Radar vor Augen hatten, das ihnen die Wege ihrer Opfer wie eine Landkarte skizzierte, rote Linien von A nach B und C, und jeder Mensch, der sich in diesem Netz verhedderte, wurde vernichtet.
Also blieb ich Tag für Tag in Pauls Wohnung, wachte nachts und schlief tagsüber, unterbrochen nur von einigen überlebensnotwendigen Einkäufen und meinen Karatetrainingseinheiten bei Lars. Sie ähnelten zunehmend einer Folter, bei der es darum ging, mich mundtot zu kriegen und meinen Willen zu brechen. Dabei hatte Lars jedoch die Rechnung ohne das zornige Tier in meinem Bauch gemacht.
Zwar hätte Colin niemals einen Trainer angeheuert, der zu einer ernsthaften Gefahr für mich werden konnte, aber ich hatte trotzdem so manches Mal das Bedürfnis, Lars mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Besonders unangenehm waren seine Selbstverteidigungslektionen, bei denen er mich mit vollem Körperkontakt angriff, ich mich aber nur mit Scheintechniken wehren durfte. Sprich: Lars nahm mich in den Würgegriff, drückte mich an seine Brust, bis meine Knochen knackten und ich auch jene seiner Erhebungen fühlte, die ich niemals fühlen wollte, und ich musste mich heraushebeln, ohne ihm ernsthaft einen Schlag verpassen zu können. Meine Hiebe und Tritte sollte ich allenfalls andeuten. Wenn ich Glück hatte, gönnte er mir anschließend eine kleine Schlagpolstereinheit und ich konnte meine Wut wenigstens an den Kissen auslassen. Doch er beendete die Karatestunde nie, ohne mich bei einem abschließenden Konditionstraining windelweich zu knechten und dabei unentwegt anzuschreien, bis ich entkräftet auf den staubigen Turnhallenboden fiel. Er respektierte meine Grenzen nicht. Ihn interessierte nicht einmal, dass ich Grenzen hatte.
Ich fragte mich zwischendurch natürlich auch, ob ich mich insgeheim vor Lars fürchtete und das Bedrohungsgefühl von ihm ausging. Doch sosehr ich ihn auch ablehnte (und sosehr er mich
ablehnte): Der Gorilla hatte nichts damit zu tun. Es war sogar so, dass die Trainingsstunden Erleichterung brachten, da sie mir keine Zeit ließen, meinen Verfolgungswahn zu pflegen, und ich mich in Lars’ Gegenwart erstaunlicherweise geschützt und abgeschottet fühlte.
Nach jedem Training wartete er, bis ich geduscht und mich angezogen hatte - einer seiner Lieblingszeitvertreibe bestand dabei darin, mir durch die geschlossene Tür frauenfeindliche Witze zuzubrüllen und meine Reaktion auszutesten (in der Regel bleiernes Schweigen) -, und er blieb stets in seiner hässlichen Angeberkarre sitzen, bis ich den Volvo gestartet hatte und vom Parkplatz gefahren war.
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