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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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beschwor ich mich, doch mein Magen gehorchte viel zu spät. Den Rest des teuren Abendessens, das so gerne an die frische Luft wollte, beförderte ich mit aller Gewalt wieder nach unten, um mich schwankend zu erheben und Colin anzuschreien. Aber nicht einmal ich hörte meine Worte. Ich schrie, oh ja, das tat ich, meine Stimmbänder vibrierten vor Anstrengung, doch es kam kein einziger Ton aus meiner Kehle. Nichts von all dem, was ich dachte und sagte, nahm Gestalt an. Trotzdem brüllte ich weiter.
    »Was soll dieses Spiel, Colin? Warum hast du mir Karate beigebracht? Weil es dir mehr Spaß macht, mich zappeln zu sehen, bevor du mich tötest? Warum tust du es dann nicht endlich - und wenn du es tust, dann tu es wie ein Mann! Allein und fair!«
    Ich versuchte, ihm in die Augen zu sehen, aber François’ Verwesungsgestank trieb mich so weit an das Geländer, dass ich mich anlehnen musste und beinahe hintenüberkippte. Meine einzige Möglichkeit, mich vor den Mahren zu retten, bestand darin, auf das Geländer zu steigen. Und das tat ich auch, denn meine Balance hatte Lars bis zum Anschlag perfektioniert und, zum Teufel, es musste machbar sein, auf den gebogenen Eisenstreben zu stehen und wenigstens noch einen einzigen Tritt auszuführen. In Colins Gesicht, nicht in François’ aufgedunsene Visage, entstellt von seinem nicht enden wollenden Gelächter, dem einzigen Laut in dieser tödlichen Stille.
    Doch Colin wandte sich in aller Gemütsruhe ab. Ich konnte ihm weder in die Augen sehen noch seinen Kehlkopf zertrümmern, wie ich es vorgehabt hatte. Mein Fuß traf lediglich seine Halsbeuge. Er blieb stehen wie ein Fels und die Rückfederung seines stählernen Körpers war so stark, dass ich das Gleichgewicht verlor. Noch in der Luft zog ich die Knie an und machte mich rund, um mich in einem mustergültigen Salto zu drehen und mit den Füßen zuerst aufzutreffen. Ich hielt die Luft an, rechnete fest damit, dass der eisige Kanal mich in einen Schockzustand versetzen, vielleicht sogar mein Herz zum Stillstand bringen würde.
    Doch das Fleet umfing mich verblüffend lau. Seine seichte, behäbige Strömung fühlte sich nicht wie Wasser an, sondern wie ein Gemisch aus Sekret, Blut und seifiger Lauge, in dem Gewebeteile und
    Knorpel schwammen. Schleimig streiften sie meine nackten Hände, als ich mich rudernd bemühte, meinen Kopf oben zu halten. Der Kanal stank abartig. Ich warf mich aufwimmernd zur Seite, um einer toten Bisamratte auszuweichen. Ihr Bauch war der Länge nach aufgeschlitzt und ihre Innereien quollen bläulich aus der frischen Wunde. Colin hatte sie als Appetitanreger benutzt.
    Beim nächsten Rudern berührten meine Füße den Boden - ich konnte stehen und mich umsehen; ein Fehler, den ich beinahe zu spät bemerkte. Denn der Schlick zog mich zu sich hinunter, warm und unerbittlich. Ich strampelte wild mit den Beinen, um mich aus ihm zu befreien und in die Waagerechte zu wuchten. Ich musste schwimmen - schwimmen, nicht gehen. Wie besessen durchpflügte ich das Fleet und hatte plötzlich wieder ein Ziel vor Augen, obwohl es genauso zwecklos war wie der Plan, sich in der Besenkammer zu verstecken: Ich wollte an jene Stelle gelangen, an der das Wandrahmsfleet und das Holländische Brookfleet zusammenflossen. Zum Haus des Kranwärters. Dort führte eine Treppe bis hinauf auf die Terrasse. Sie musste ich erreichen.
    Natürlich war auch das keine endgültige Rettung. Doch für meinen Körper zählte jede Sekunde, in der ich lebte - er kannte keine Zukunft, sondern nur die unmittelbare Bedrohung, der er entkommen wollte. Jeder einzelne Herzschlag war unverzichtbar für ihn, ganz egal, was meine Vernunft zu wissen glaubte. Und so schenkte er mir aus seinen verborgenen Tiefen noch einmal ausreichend Kraft, um Meter für Meter zurückzulegen, auch wenn mich all die unsichtbaren Gewebeklumpen, die das Wasser mit sich führte, immer wieder berührten, als wollten sie mich liebkosen. François und Colin schickten sie mir. Sie waren hinter mir her - lautlos und pfeilschnell. Es bereitete ihnen köstliche Wollust, mich fliehen zu sehen.
    Wenn ich innehielt, würde das Fleet still daliegen, als ob ich der einzige Mensch auf Erden wäre. Und doch fühlte ich sie bei jedem
    Schwimmzug. Sie kamen näher, immer näher ... Da - zwei knochige Finger krallten sich kalt um meinen Knöchel. Wütend wirbelte ich um die eigene Achse und dank meiner schnellen Drehung lösten sich seine Klauen.
    Nur noch ein paar Meter, ich konnte die Treppe

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