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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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schon sehen, ich durfte jetzt nicht schlappmachen, nicht aufgeben. Wieder grapschte eine Hand nach meinem Fuß, doch dieses Mal zog ich ihn sofort an meinen Bauch und wuchtete mich mit dem letzten Kraulschlag an die Steinstiege.
    Meine Arme zitterten vor Schmerzen, als ich mich auf die Treppe hievte, die Füße zuerst, damit sie nicht wieder im Morast des Schlicks versinken konnten, dann wälzte ich meinen Rumpf hinterher. Ich hatte sie abgeschüttelt und das verlieh mir ein weiteres Quäntchen Energie und eine Art Fluchtvorstellung. Ich musste am Kopf der Treppe über die Absperrung klettern. Durch die Baustelle zurück auf die Straße rennen. Schreien. Autos anhalten. Mich in eines hineinquetschen. Vielleicht schaffte ich es sogar bis nach vorne zum Sandtorkai, wo auch abends Menschen waren, die mich retten würden, obgleich ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich nach dieser Nacht überhaupt noch ein würdiges und sinnvolles Dasein führen sollte.
    Ich hatte meinen Bruder allein gelassen, während er starb, ja, ich war sogar diejenige gewesen, die den Weg zu seinem Tod bereitet hatte. Colin, den ich liebte und der all das Übel über unsere Welt gebracht hatte, hatte mich benutzt und verraten - er war schuld an dem Verschwinden meines Vaters, an dem Tod meines Bruders und er würde mich suchen, bis er mich fand, um das zu vollenden, was ich gerade zu verhindern versuchte.
    Schon hatte ich die ersten Stufen überwunden. Gehen konnte ich nicht, dazu war ich zu schwach und zu ausgelaugt, aber ich konnte mich an ihnen hochziehen, eine nach der anderen hinter mich bringen ... Denn niemand versuchte, mich davon abzuhalten. Ich hatte sie abgehängt. Ich hatte sie wahrhaftig abgehängt! Ich wagte es, innezuhalten und mich umzudrehen. Es war so, wie ich es geahnt hatte. Das Wasser lag friedlich und dunkel vor mir, als wäre nichts geschehen. Lauerten sie dort? Warteten sie? Aber worauf?
    Ohne meinen Blick vom Fleet abzuwenden, setzte ich die Hand auf die nächste Stufe, krallte meine Nägel in den Stein, schleppte meinen Körper hinterher und - nein. Nein! Meine Fingerspitzen berührten etwas, was nicht hierhingehörte. Winselnd löste ich meine Augen vom Wasser und starrte auf zwei Stiefelspitzen, deren Sohle bereits zerfledderte. Ihr Leder glänzte tiefschwarz vor Nässe. Wie in Zeitlupe schob sich die rechte Stiefelspitze auf meine blasse Hand und zertrat knirschend meinen gesplitterten Knochen.
    Ich blickte mich panisch um, um einen neuen Fluchtweg zu suchen, doch nun tauchte François aus dem Fleet auf. Sein Körper hinterließ keine Ringe auf dem Wasser und es blieb auf ihm haften wie ein Überzug aus durchsichtiger Gelatine, als er sich aus ihm erhob. Er schien wie Colin alle Zeit der Welt zu haben - warum beeilen, wenn er mich sowieso kriegen würde? Er wollte es genießen, es auskosten. Sein Schädel war auf der einen Seite gequetscht worden und das linke Auge eingedrückt. Ich schaute mitten in die gähnende Höhle hinein, aus deren blutigen Tiefen Eiter auf sein verformtes Gesicht lief. Kraft hatte die Verletzung ihm jedoch nicht nehmen können. Mit weit ausgestreckten Armen watete er durch das niedrige Wasser auf mich zu. Aufheulend versuchte ich, an Colin vorbeizuklettern.
    »Ich helfe dir, mein Freund«, ertönte seine samtene Stimme über mir. Mein Freund ... er meinte nicht mich. Er meinte François! Ein simpler, aber präziser Tritt seines Stiefels genügte, um mich kopfüber zurück in den Kanal zu befördern, direkt vor François. Ich schaffte es nicht, einen einzigen Schwimmzug auszuführen oder mit dem Gesicht die Wasseroberfläche zu durchbrechen. François begann mich zu würgen, bevor ich auch nur daran denken konnte, mich zu wehren. Ich öffnete meine Augen. Das Fleet war rot - ein trübes, organisches Rot, durchzogen von Schlieren und bräunlichen Fetzen, die träge an meinem Gesicht vorüberzogen. François starrte mich grinsend an. Dann kamen Colins weiße, starke Hände dazu und entzogen mich ihm. Kurz ließ er mich nach Luft schnappen und ich nutzte die Chance, um es erneut mit ein wenig Gebrüll zu versuchen.
    »Du Arschloch! Tu es allein! Oder kannst du das nicht? Musst du kuschen vor ihm? Weil er ein paar Jährchen älter ist? Hast du keine Eier in der Hose? Feige Sau, elendige!«
    Der Rest meiner Verwünschungen ging in hilflosem Gurgeln unter, denn Colin hatte mich wieder unter Wasser gedrückt und schob meine Augenlider nach oben, damit ich François ansehen musste, der lüstern nach

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