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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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die wächserne Starre aus ihren Gesichtern. Und nun konnte ich mir auch sicher sein, dass Paul lebte, denn er ließ einen knackigen, vernehmlichen Pups ertönen.
    »Prost Neujahr«, begrüßte ich dieses unüberhörbare Zeichen frisch erwachter Vitalität.
    »Ich muss kotzen«, verkündete Gianna und hastete auf das Badezimmer zu.
    »Hab ich eben auch schon«, rief ich ihr leutselig hinterher. Warum eigentlich? Ach ja, weil Colin mir in den Bauch getreten hatte.
    Drecksack. Und wieso fürchtete ich mich nicht mehr vor ihm? Nebensächlich. Das, was er eben mit mir getan hatte, übertraf alles Schöne, was ich je erlebt hatte, und das würde ich mir nicht selbst durch zu vieles Denken ruinieren. »Was macht ihr hier?«
    »Ellie ...« Tillmanns Stimme war nur noch ein Raspeln. »Wir haben es gesehen. Den Kampf. Wir haben euch gesehen, aber dann ... seid ihr unter Wasser getaucht und ... «
    »Wie konntet ihr das sehen?«, fragte ich irritiert. »Es hat sich doch gar nicht hier abgespielt. - Paul, alles okay?«
    Paul hatte sich auf den Boden plumpsen lassen, blieb aber aufrecht sitzen. Prüfend fasste er sich an sein Herz, dann an seine Brust.
    »Es - es ist besser geworden«, murmelte er verwundert. »François hat ... oh Gott ...« Er begann zu begreifen, was geschehen war. »Und dieser Kerl ... Colin. Wo ist er? Ich bring ihn um.«
    Doch Paul machte auf mich nicht den Eindruck, als könne er irgendwen oder irgendetwas töten. Er lebte, viel mehr aber auch nicht.
    »Ich weiß nicht, warum wir es sehen konnten«, krächzte Tillmann. Aus dem Badezimmer ertönten abwechselnd Würgegeräusche und italienische Gebete. Ich hatte es nie gut ertragen können, bei so etwas zuzuhören, doch im Moment waren mir Tillmanns Erläuterungen wichtiger.
    »Jetzt erzähl schon!«, drängte ich ihn. Er schluckte merklich. Paul war immer noch vollauf damit beschäftigt zu kapieren, dass seine Schwester doch nicht den Verstand verloren hatte - und noch etwas anderes schien ihn aus der Fassung zu bringen, was ich nicht deuten konnte.
    Tillmann fuhr sich zerstreut durch die kurzen Haare. »Wir haben es geschafft, Paul zum Atmen zu bringen, und dann ... dann sind wir wie auf einen Befehl hin ans Fenster gegangen, haben rausgeschaut und ... wir konnten alles sehen. Bis ihr plötzlich alle abgetaucht seid. Ellie, wir wussten die ganze Zeit nicht, was mit dir geschehen ist, und wir konnten uns nicht rühren. Aber wir waren wach!«
    »Ach ja. Colins Spezialzauber. Ich denke, er hat das getan, weil Paul es sehen musste, um es zu glauben, oder? Paul?«
    Ich drehte mich zu ihm um und tätschelte ihm den Kopf. Er antwortete nicht. Sein Gesicht erbleichte und nach einigen Sekunden verbarg er es in seinen Händen, als wolle er es uns nie wieder zeigen.
    »Ellie ... oh Gott...«, flüsterte er.
    »Ellie, ich will dir ja nicht die Stimmung verderben, aber - wer hat gewonnen?«, drängte sich Tillmanns Stimme zwischen unsere geschwisterliche Zwiesprache. »Ist Colin nun auf unserer Seite oder nicht? Hat er François besiegt? Denn wenn nicht, dann ... «
    Meine Ernüchterung war wie ein Eisregen. Ich fing an zu frösteln und musste mich kurz setzen, weil meine Beine nachgaben, doch die Schwäche hielt nur kurz an. Ich fühlte mich immer noch rein wie nie zuvor, ausgeglichen und beschwingt, aber mein Gehirn arbeitete für einen sehr klaren Moment ungehindert zuverlässig. Wo war François?
    Am Ende des Flurs rauschte die Klospülung. Dann begann Gianna, lautstark Zähne zu putzen und zu gurgeln. Wenn sie in all dem Elend noch an ihre Mundhygiene dachte, konnte es ihr so schlecht nicht gehen.
    Ja - wer hatte eigentlich den Kampf gewonnen? Und was war das eben für ein merkwürdiger Akt gewesen? Hatte Colin mich befallen? War ich dabei, mich zu verwandeln, und fühlte mich deshalb so stark und gelassen? Befand ich mich bereits in der Metamorphose?
    Colin nahm mir die Antwort ab. Denn hätte die Metamorphose eingesetzt, hätte ich ihn mit Sicherheit kommen hören. So stieß ich einen spitzen Schrei aus, als er plötzlich vor uns im Fenster erschien. Er musste wie François die Hauswand hochgekrochen sein und, bei allem Respekt, Colin sah nur unwesentlich besser aus als er.
    Tillmann und Paul zogen sich erschrocken in die andere Ecke des Zimmers zurück, Paul krabbelnd wie ein Baby, Tillmann wieselflink. Nur ich blieb stehen.
    »Du warst auch schon mal hübscher«, sagte ich zärtlich, ohne zu begreifen, womit er diese Zärtlichkeit verdient hatte. Eben noch

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