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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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meinem Hals grapschte. Colin überließ mich ihm, zog sich zurück. Eine Eiterwolke ergoss sich aus François’ Augenhöhle und hüllte mich ein. Diesmal gönnte Colin ihm seine Entzückung. Er durfte mich zu Tode würgen, während ich ihn anschauen musste, einen Zombie, der nach Tod stank und nur noch ein Auge hatte. Ich konnte meinen Blick nicht von der schwarzen Höhle in seinem Gesicht abwenden und alles ging ineinander über. Mein eigenes aussichtsloses Zappeln und Zucken, die Leiber der Leichen, der Gestank, der Blick des Mädchens hinauf zu den Düsen, die dünnen, schrillen Schreie der anderen ... immer und immer wieder ... das Gas ... nun kam das Gas ... und meine bodenlose Wut...
    Ich wollte einatmen, obwohl der Druck auf meinen Kehlkopf es unmöglich machte, aber wenn ich einatmete, würde Wasser in meine Lunge fließen und diesem Albtraum ein Ende bereiten. François’ Mund spitzte sich erstaunt und sein Griff wurde noch unerbittlicher. Denn Colin war zurückgekehrt. Als wäre François eine Puppe, schob er ihn von mir weg, löste seine Finger von meiner Kehle und legte seine eigenen auf meinen Rücken. Meine Haut platzte auf. Purpurne Blutwölkchen verdunkelten das Wasser.
    Colin, was machst du da?, fragte ich ihn in Gedanken und ich tat es unpassend liebevoll. Das wird mich umbringen, hörst du? Das Wasser ist voller Keime. Mein Rücken wird sich entzünden, es werden sich Geschwüre bilden und wahrscheinlich wird kein Mensch eine Medizin dagegen haben. Ich werde langsam und qualvoll ein-gehen. Lass mich atmen. Bitte, lass mich frei.
    Doch er schmiegte seine Lippen auf meine, hauchte mir klare, reine Nachtluft ein, verschloss meinen Mund mit seinen Zähnen und ließ sie abwärts wandern. Erst jetzt registrierte ich, dass mein T-Shirt zerfetzt war und meine linke Brust bloß lag. Colin presste seine Wange an mein Herz.
    Eine tiefe, dunkle Melodie erklang in meinem Kopf. Es waren nur wenige Töne, aber so voll und zart zugleich, dass ich hingebungsvoll die Augen schloss. Sie verdrängten sogar das kehlige Kreischen hinter uns - François’ Wutschrei, der das Wasser schäumen ließ. Wem galt er? Mir? Schrie er aus Futterneid? Wenn ja, dann saugte Colin mich gerade aus und er sollte nicht damit aufhören, bitte nicht aufhören ...
    All meine Wut, meine Angst und mein Misstrauen wurden von der melancholisch-lieblichen Musik aus meinem Herzen und aus meinem Bauch geschwemmt. Atmen musste ich nicht mehr, nur stillhalten und mich von den Klängen tragen und berühren lassen. Sie streichelten mich am ganzen Körper.
    Dann schob Colin mich sanft von sich weg. Die Melodie begleitete mich, als ich zielstrebig nach Hause schwamm, in kraftvollen, ausgeruhten Zügen. Mit jedem Schlag meiner gespannten Arme wurde das Wasser klarer und kälter, gewann seine Transparenz und seinen Salzgeschmack zurück. Keine Schlieren mehr, kein Blut, kein
    Schleim. Es wusch mich rein und spülte mir sogar die brennende Linse aus meinem Auge, heilte es.
    Wie ein Fisch schnellte ich aus dem Fleet, sprang auf die Dienerreihe und lief leichtfüßig zu Pauls Wohnung. Hinter mir erhob sich ein Kreischen und Brüllen, so schaurig und blutrünstig, dass es mich normalerweise vor Angst in die Knie gezwungen hätte. Sein Echo schallte sekundenlang durch die Fleete. Winselnd stoben die Ratten über meine Füße, um zu ihrem Herrn zu gelangen und ihm beizustehen.
    Ich lächelte nur, rannte durch die offen stehende Haustür, nahm geschwind die Treppen und eilte zum Schlafzimmer meines Bruders.
    Paul!, dachte ich. Ich bin wieder da!
    Doch Pauls Bett war leer.

Crashtest-Dummy
    Pauls Bett war leer, weil er am Fensterrahmen lehnte, und zum Glück bemerkte ich das, bevor ich hysterisch werden konnte. Allerdings hatte ich mich noch nie weniger hysterisch gefühlt als in diesem Augenblick. Ich blieb auch dann noch gefasst, als ich kapierte, dass etwas mit ihm nicht stimmte, genauso wie mit Gianna und Tillmann, die sich neben ihm postiert hatten. Alle drei waren starr und steif, als hätte sie jemand mit einem Bann belegt - es waren Figuren eines Wachskabinetts, keine Menschen. Ihre Augen standen offen und sie schauten in die Nacht hinaus, als hätten sie etwas durch und durch Grauenvolles erblickt. Doch ich konnte nichts Grauenvolles sehen. Der Nebel hatte sich nur unwesentlich gelichtet. Sie blickten in eine graue Suppe.
    »Hey!«, rief ich leise. Meine Stimme brach den Bann. Der Glanz kehrte in ihre unnatürlich stumpfen Pupillen zurück. Dann wich

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