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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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(Immerhin hatte er vorher meine Haut desinfiziert.) Im Gegenteil - Paul war ein echter Beschützer gewesen. Wer mir zu nahekam, konnte sich seiner Rache sicher sein. Und jetzt? Er hatte mich angegriffen. Aus dem Nichts heraus. Wegen eines bescheuerten, hässlichen Tellers.
    Ich musste zwar zugeben, dass ich ihn bis aufs Blut gereizt hatte. Doch früher - es war ja nicht zum ersten Mal geschehen - war er in solchen Situationen einfach in sein Zimmer gegangen und hatte mich ignoriert.
    Und dann dieser Schrei - gequält und voller Schmerz. Er hatte geklungen, als hätte er all seine letzte Energie geballt, um diesen Schrei auszustoßen und danach nie wieder zu atmen, nie wieder zu fühlen ...
    War das alles eine Folge des Verlusts von Lilly? Erst im Sommer hatte ich erfahren, warum Paul so früh ausgezogen war. Seine Freundin Lilly hatte sich in Papa verliebt. Und Paul war davon überzeugt gewesen, dass Papa diese Verliebtheit erwidert, ja, herausgefordert hatte. Schließlich glaubte er zu diesem Zeitpunkt schon lange, dass Papa Mama so oft alleine ließ, um irgendwelche Affären zu pflegen.
    Ich versuchte mir auszumalen, wie ich mich fühlen würde, wenn Colin mich verließ, weil er sich in Mama verliebt hatte. Allein die Vorstellung war grauenvoll. Und wahrscheinlich würde ich ebenfalls die Schuld bei Mama suchen. Aber reichte das aus, um all meine früheren Leidenschaften und Pläne fallen zu lassen und - lesbisch zu werden?
    Dieser Gedanke irritierte mich so sehr, dass ich zu weinen aufhörte. Nein. Bestimmt wäre ich nicht lesbisch geworden. Aber unter Garantie kreuzunglücklich. Obwohl sehr viel unglücklicher als in diesem Moment eigentlich kaum noch möglich war.
    Erschöpft blieb ich liegen. Die Übelkeit hatte mich fest im Griff, sodass ich nur noch flach durch meinen ausgetrockneten Mund atmete, da ich die Gerüche vom Frühstückstisch nicht ertragen konnte. Wenn ich die Tür richtig zugeordnet hatte, die vorhin zugeknallt worden war, hatte Paul sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen. Ob er dort auf dem Bett lag? Oder frische Luft schnappen wollte? Verflucht, das Fenster ... Ich hatte die Flügel heute Nacht vom Boden aus nur lose in ihre Ausgangsposition zurückgedrückt, weil ich nicht in der Lage gewesen war aufzustehen. Und sosehr Paul mich eben erschreckt hatte - er war mein Bruder und es war etwas mit ihm geschehen, wofür er möglicherweise nichts konnte. Reizen durfte ich ihn keinesfalls mehr, aber ich musste nachsehen, ob er in Ordnung war.
    Ich zog mich an meinem Stuhl hoch und taumelte zu Pauls Tür. Ich öffnete, ohne anzuklopfen. Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung stellte ich fest, dass Paul bäuchlings auf seinem Bett lag, den Kopf tief ins Kissen vergraben, und atmete. Langsam, aber regelmäßig.
    »Verschwinde, Ellie.« Seine Stimme war belegt. Hatte er etwa geweint? Oder war es die Erschöpfung, die ihn so schwach klingen ließ?
    »Deine Fenster sind kaputt. Wollte ich dir nur sagen.«
    »Ich weiß.«
    Ich zuckte mit den Schultern - mehr konnte ich nicht tun und trösten wollte ich ihn schon gar nicht - und zog mich auf mein Zimmer zurück. Ich hatte meinen Koffer immer noch nicht ausgepackt; zum einen mangels Schrankfächern, zum anderen, weil ich mir nach wie vor nicht im Klaren darüber war, ob ich bleiben sollte oder nicht.
    Ich fühlte mich nicht mehr sicher bei Paul. Im Moment kam er mir vor wie der Wahnsinnige und ich empfand mich im Vergleich zu ihm als geradezu durchschnittlich normal. Und trotzdem: Ich hatte zwar einen Striemen an der rechten Wange, eine Beule am Hinterkopf und mir war durch und durch elend zumute, aber ... er hatte sich in allerletzter Sekunde zurückgehalten, hatte die Kontrolle über sich zurückerlangt, und irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, jetzt einfach abzuhauen. Schließlich war ich heil davongekommen. Und ich wollte wissen, was in ihm vor sich ging. Wenn ich jetzt floh, würde er mich nie wieder so nah an sich heranlassen.
    Ich war nun drei Tage in Hamburg und ich hatte mir bislang nur die Speicherstadt angeschaut. Ich wollte hier raus, etwas anderes sehen, nicht nur auf die Backsteinwände der gegenüberliegenden Häuser, das schmale Stück Himmel über mir oder das trübe Wasser unter mir starren. Die Stellenzusage der Klinik erschien mir einmal mehr wie ein Fingerzeig. Natürlich würde sich der Irrtum auch dann aufklären, wenn ich nicht persönlich dort erschien. Doch die Klinik lag in der Nähe der Alster, wo Hamburg angeblich am

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