Scherbenmond
war, dass ich mich automatisch entspannte, blieb, doch etwas mit diesem Lächeln stimmte nicht - und das fiel mir nicht zum ersten Mal auf. Es wirkte nicht falsch oder aufgesetzt. Aber es machte auf mich den Eindruck, als habe er lange und hart trainieren müssen, damit es ihm nicht zu schnell wieder entglitt. Wenn es ihm entglitt - wie eben, nur für Bruchteile von Sekunden -, wurden seine grauen Augen so ernst und traurig, dass sie in mir das Bedürfnis weckten, meinen Blick von ihnen abzuwenden.
»Wären Sie damit einverstanden, dass ich Ihnen das Warum anschließend erkläre?«, fragte er mich, ohne eine echte Antwort zu erwarten. »Ich würde mir wünschen, dass Sie sich die Patienten unvoreingenommen ansehen.«
»Aber Sie wissen schon, dass ich nicht Ihre, äh, Putzhilfe bin?«
Anstatt darauf einzugehen, stand er auf und reichte mir seinen Arm. Obwohl ich fremde Menschen nicht gerne anfasste, hakte ich mich vertraulich unter. Im Gang ließ er mich wieder los, um die erste Tür zu öffnen.
»Bitte«, sagte er. »Schauen Sie.«
»Aber ich kann doch nicht... Warum?«
»Tun Sie mir den Gefallen, Fräulein Sturm, und seien Sie nicht so stur. Sehen Sie sich das an, ich bitte Sie.«
Ich gab widerwillig nach. Es behagte mir nicht, fremde Patienten anzustarren, und das hier war offensichtlich ein Patientenzimmer. Durch eine Glasscheibe, vor der sich ein schmales Pult mit Messgeräten und verschiedenen Instrumenten befand, konnte ich auf ein Bett blicken, in dem eine Frau schlief. Nun - sie sollte wohl schlafen. Doch das, was sie tat, hatte nichts mit dem gemein, was ich unter Schlaf verstand. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Gesicht wie bei jedem Schlafenden leicht erschlafft. Sie war woanders, nicht hier, sie bemerkte uns nicht. Ihr Körper aber bäumte sich beinahe gewalttätig gegen den Schlaf auf. Sie hockte in der Mitte ihres zerwühlten Bettes auf den Knien und bewegte ihren Oberkörper rhythmisch vor und zurück. Manchmal beugte sie sich dabei so tief hinunter, dass ihre Stirn das Laken berührte. Allein vom Zuschauen ging mein Atem schneller. Das ständige Wippen musste anstrengend und kräftezehrend sein. Ich atmete langsam aus, um das Schwindelgefühl in meinem Kopf zu bezwingen, das mich beim Anblick dieser Frau ergriff. Ihr Gesicht erinnerte mich an die Bilder aus Papas Patientenakten. Es war ein zerstörtes Antlitz und ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie nicht spürte, was sich da abspielte. Sie konnte nur nichts dagegen tun. Sie war hilflos. Und das anzusehen machte mich ebenso hilflos.
»Sie tut das die halbe Nacht lang, seit Jahren«, erläuterte der Arzt sachlich, doch nicht ohne Mitgefühl. »Zwei Ehen gingen kaputt, ihr dritter Mann hat sie zu mir gebracht. Er weiß sich nicht mehr zu helfen. Er hat versucht, neben ihr zu schlafen, aber er findet keine Ruhe. Und sie selbst ist seit Jahren dauererschöpft und arbeitsunfähig. Sie fühlt sich morgens, als habe sie einen Marathonlauf hinter sich.«
»Was fehlt ihr?« Obwohl die Glasscheibe sicher schalldicht war, senkte ich meine Stimme. Ich hörte mich matt und zittrig an.
»Gute Frage«, lobte mich der Arzt. »Genau die richtige. Und genau die, auf die ich seit Jahren eine Antwort suche. Wir nennen es Somnambulismus. Wie so oft: ein Begriff, jedoch keine Heilung. Gehen wir weiter ...«
Ich blieb ein paar Sekunden stehen, bevor ich mir einen Ruck gab und ihm folgte. Dieser Anblick eben hatte mir eigentlich genügt. Im Gehen sah ich mich nach einem Fenster um, an dem ich kurz frische Luft tanken konnte, denn das Schwindelgefühl wurde stärker. Doch es befand sich ganz am Ende des langen Gangs und der Arzt winkte mich bereits energisch zu sich.
Im nächsten Zimmer saß ein junger Mann an einem Schreibtisch vor einem Laptop. Ich schätzte ihn auf dreißig, maximal fünfunddreißig. Als er sich zu uns umdrehte und der Doktor grüßend die Hand hob, erschrak ich. Seine Augen waren wie tot. Blassblau, hängend, vollkommen umschattet, und wenn ich irgendeinen Rest von Gefühl darin erkennen konnte, dann war es der Widerhall einer Traurigkeit, die so vernichtend war, dass sie kein Mensch dieser Welt ertragen konnte. Der Mann lächelte mir kurz zu, ein verwegenes, fast flirtendes Lächeln, und beugte sich wieder über seine Tastatur, um weiterzutippen.
»Das ist Marco, mein Problemkind. Er kommt aus Bosnien, hat im Bürgerkrieg seinen besten Freund verloren, seine Mutter wurde vergewaltigt, er hat dabei zusehen müssen ... Er ist dann
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