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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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schönsten war. Ich konnte den Termin mit einem Spaziergang verbinden und dabei in Ruhe nachdenken. Und wenn ich mich danach fühlte, sagte ich den Herren und Damen später, dass ich nicht ihre erwartete Putzhilfe war.
    Nachdem ich diesen Plan gefasst hatte, beruhigte ich mich ein wenig. Bis zum frühen Abend blieben Paul und ich stumm auf unseren Betten liegen. Ab und zu löste sich noch ein erschrockener Schluchzer aus meiner Kehle, doch nach einigen Stunden entkrampfte sich der Knoten in meinem Magen und ich bekam Durst und Hunger. Ich suchte mir ein paar anständige Klamotten heraus, ging ins Bad, duschte und benutzte seit Langem wieder meine vernachlässigten Schminkutensilien. Obwohl es völlig absurd war, da ich gar nicht gemeint war, hatte ich das Gefühl, vorzeigbar zu meiner ersten Arbeitsschicht erscheinen zu müssen.
    Als Paul unvermittelt in der halb offenen Badezimmertür auftauchte, begann meine Hand so sehr zu zittern, dass mir die Mascara ausrutschte. Nun zierten zwei Striemen mein Gesicht, einer an der linken und einer an der rechten Wange. Schwarz und rot.
    »Ellie, Kleine.« Pauls Worte hörten sich müde an. So abgrundtief müde und erschöpft. »Ich wollte das nicht. Es bereitet mir keinen Spaß. Und es zieht mich runter ... Du darfst mich nicht reizen, bitte tu das nicht...«
    Ich drehte mich zögerlich zu ihm um. Oh Gott, sein Blick ... Sofort wandte ich mich ab. Doch der kurze Kontakt unserer Augen hatte ausgereicht, um meine zum Weinen zu bringen. Hastig griff ich nach einem Kleenex und betupfte mir in bester Tussenmanier immer und immer wieder meine Lider, damit meine Mascara sich nicht selbstständig machte.
    »Ist okay«, murmelte ich erstickt.
    »Wofür machst du dich denn zurecht?«, fragte Paul verwundert.
    »Hab noch einen Termin.«
    »Einen Termin? Bist du sicher, dass du in diesem Zustand ...?«
    »Ja«, log ich. Ich war mir kein bisschen sicher. Im Moment würde es genügen, mich freundlich anzulächeln, um das in mir hervorzukehren, was ich gerade war: ein Häufchen Elend. Ich drückte meine Schultern zurück und griff nach einem weiteren Kleenex, um mir den Mascarastriemen von der Wange zu wischen. Der andere musste bleiben. Für ein ausführliches Make-up hatte ich sowieso keine Zeit mehr und für einen Spaziergang erst recht nicht. Ich hatte das Schminken verlernt und viel zu viel Zeit vertrödelt.
    Ich feuchtete meine Hände an, versuchte, meine Haare glatt zu streichen, und schob mich an Paul vorbei auf den Flur.
    »Wo gehst du jetzt hin, Ellie?«
    »Putzen.«
    »Putzen?«, fragte Paul konsterniert. »Du gehst - putzen?«
    »Genau«, erwiderte ich trocken. Ich sah ihn an und spürte, dass meine Mundwinkel wie seine in einem jähen Anflug von Belustigung zuckten. »Du klopfst Nägel in die Wand und ich gehe putzen. Die Geschwister Sturm machen Karriere.«
    Ich verschwand ohne Gruß, winkte mir am Sandtorkai ein Taxi herbei und ließ mich mit leerem Magen und dröhnendem Schädel zu meiner ersten offiziellen Arbeitsstelle fahren.

Der Sandmann
    Bei dieser Taxifahrt war ich diejenige, die an der Richtigkeit der Adresse zweifelte. Das Haus sah nicht aus wie eine Klinik, sondern vielmehr wie ein Luxushotel. Es hatte ein tief sitzendes, spitzes Giebeldach und eine auffällige rotbraune Backsteinfassade, die im Untergeschoss von runden, in den oberen Stockwerken von eckigen Sprossenfenstern durchbrochen wurde.
    »Das kann nicht sein«, sagte ich resigniert. »Sie müssen sich irren.«
    »Jerusalemkrankenhaus, oder? Das ist das Jerusalemkrankenhaus, junge Frau«, erwiderte der Taxifahrer höflich, aber mit leicht gereiztem Unterton. »Moorkamp 2 bis 6. Ein anderes Jerusalemkrankenhaus gibt es nicht in Hamburg.«
    Also zahlte ich und stieg aus. Noch fünf Minuten bis zu meiner ersten Schicht. Hinter den meisten Fenstern war es bereits dunkel, doch aus dem Foyer schimmerte Licht. Eigentlich war das völlig bescheuert, was ich hier vorhatte. Ich hätte anrufen können. Ich hatte die Telefonnummer zwar nicht dabei und auf dem Brief stand nur eine E-Mail-Adresse, aber es wäre eine Sache von drei Minuten gewesen, mein Handy aus der Tasche zu kramen, die Auskunft anzurufen, mich verbinden zu lassen und Bescheid zu geben, dass eine Verwechslung vorlag.
    Warum also tat ich es nicht? Ich las mir das Schreiben im Schein der Laterne ein letztes Mal durch. Irgendetwas in diesem Brief hatte mich dazu gebracht, ihn wichtig zu nehmen, doch ich konnte es nicht benennen. Ich zog unwillkürlich die

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