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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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geflohen, um jahrelang tagtäglich Drogen in sich hineinzufressen - mit dem Ziel, seine Gefühle abzutöten und all das zu verdrängen, was er nicht bewältigen konnte.«
    »Und jetzt?«, fragte ich, ohne meine Augen von Marco abzuwenden. Er tippte, als würde er den längst beendeten Krieg nun gegen seine Buchstaben fortführen. Aber er sah nicht aus, als stünde er unter Drogen. Menschen unter Drogeneinfluss stellte ich mir anders vor.
    »Selbstmordversuch. Er hatte sich in ein Hotelzimmer eingeschlossen, ein schwarzes Kreuz an die Wand gepinselt und zweiundvierzig Pillen geschluckt. Wiederbelebung, anschließend totaler Zusammenbruch. Das komplette System hat versagt. Sein Körper wusste, dass seine Seele die Realität nicht verkraften kann, und hat das Leben verweigert. Sie konnten ihn schließlich trotzdem retten.«
    »Darf man so etwas überhaupt Rettung nennen?«, fragte ich schärfer als beabsichtigt. »Wenn er das Leben nicht aushält und sterben möchte, warum lassen Sie ihn dann nicht?« Ich suchte mit meinen Händen nach Halt, denn nun flimmerten schwarze, tanzende Flecken vor meinem Sichtfeld. Ich glaubte, das Hacken der Tastatur durch das dicke Panzerglas zu hören. Tacktacktack. In meinem Kopf vervielfältigte es sich rasend.
    »Wir unterliegen nun mal dem hippokratischen Eid, Fräulein Sturm. Ihm verbietet das Gesetz, sich zu töten, und uns der Eid, ihn sterben zu lassen«, mischte sich die Stimme des Doktors in das Hämmern meiner Venen. »Wir konnten ihn mit Medikamenten einigermaßen stabilisieren, aber er hat immer wieder Flashbacks, die ihn zurück in den Krieg reißen. Meistens, wenn er Brücken überquert. Er möchte springen und einige Male hat er es versucht. Wer ihn abhalten will, ist in Gefahr, mitgerissen zu werden. Seine Augen sind während dieser Flashbacks komplett weiß. Er sieht nach innen. Er sieht das, was er sich sonst nicht vergegenwärtigen kann. Und es muss grauenvoll sein. Marco ist beziehungsunfähig, kann keine geregelte Arbeit ausführen, doch er schreibt wie ein junger Gott. Das hält ihn am Leben. Nur das Schreiben.«
    Ich fuhr mir mit der Zunge über meine trockenen Lippen.
    »Und wenn er Freunde findet, echte Freunde, sich eine Familie aufbaut, vielleicht einen Beruf hat, der ihn wirklich erfüllt - vielleicht schafft er es ja als Autor? Er ist bestimmt nicht dumm und hässlich auch nicht und ...« Wieso konnte ich überhaupt noch denken und sprechen? Ich sah schon fast nichts mehr und hörte meine eigene Stimme kaum noch.
    »Glauben Sie mir, Fräulein Sturm: Daran liegt es nicht. Frauen gab es viele und potenzielle Freunde erst recht. Aber Marco kann keine Liebe zulassen, weil er sich verachtet und seine Seele nichts erlaubt, was er wieder verlieren könnte. Menschen kann man nun mal verlieren. - Die Fachdiagnose lautet übrigens posttraumatisches Belastungssyndrom. Er selbst bezeichnet es schlicht als madness.« Der Arzt zögerte kurz. »Kommen Sie, es geht weiter.«
    Unsicher wandte ich mich um und konnte nicht vermeiden, dass ich taumelnd gegen die Schulter des Doktors prallte. Er tat so, als habe er es nicht bemerkt - und auch nicht meine Mühe, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Marcos tote, leere Augen ließen mich kaum los. Übergroß blickten sie mir aus dem Wirbel der schwarzen Flecken entgegen. Nur widerstrebend folgte ich dem Doktor zum nächsten und letzten Zimmer des Flurs.
    Die Panzerglasscheibe vermochte es nicht, das ohrenbetäubende Schreien und Kreischen abzuhalten - das Schreien eines Babys, welches von einer erschöpft wirkenden Schwester auf ein kleines Bett gelegt, behutsam gestreichelt und nach einer Weile wieder hochgenommen wurde. Wiegend trug sie es hin und her.
    »Haben Sie schon mal von der Diagnose Schreibaby gehört?«, fragte der Arzt. Ich schüttelte beklommen den Kopf. Träge schwappten die schwarzen Flecken hin und her, um sich dann weiter zu verdichten.
    »Manche Babys schlafen viel zu wenig und schreien stundenlang. Es gibt eine Palette an Theorien, die besagen, warum das so ist, doch den betroffenen Eltern nützen sie wenig, denn sie können kaum etwas dagegen tun - oder dafür. Für den Schlaf ihres Babys. Sehen Sie selbst...«
    Die Schwester legte das Baby wieder ab und augenblicklich begann es mit den Beinchen zu strampeln und in den höchsten Tönen zu kreischen. Es klang panisch. Ich musste an meine Träume im vergangenen Frühjahr denken - meine Träume von Colin, Colin als Baby. Ein winziges, ungeliebtes Wesen, das nie

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