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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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wollen Sie nun von mir?«, fragte ich barsch.
    »im Moment gar nichts«, antwortete er aufgeräumt und etwas zu locker. Ich glaubte ihm nicht. »Sie sollten einfach nur wissen, dass Sie in mir einen Gesprächspartner haben, der die Existenz von Mahren zumindest für möglich hält. Abgesehen davon suche ich irgendwann einen Nachfolger. Gerne auch eine Nachfolgerin. Ich bin nicht mehr der Jüngste, wissen Sie.«
    »Ach«, sagte ich trocken und ließ meinen Blick über seine Glatze schweifen. »Daher weht also der Wind.«
    Er grinste amüsiert. Konnte ich ihm wirklich trauen? Nun musste ich ein paar Dinge in Erfahrung bringen. Das hier konnte auch alles eine Falle sein. Er war mir sympathisch - das auf jeden Fall. Und eigentlich wirkte er auch glaubwürdig. Doch was war seine Motivation?
    »Warum glauben Sie meinem Vater eigentlich? Sie sind doch Wissenschaftler«, fragte ich mit fester Stimme. »Die glauben nur das, was sie sehen.«
    Augenblicklich erlosch sein Grinsen. »Eine berechtigte Frage, Fräulein Sturm.«
    »Dann beantworten Sie diese Frage. Ich bin Ihnen in Ihre Geisterbahn der Schlaflosen gefolgt und nun möchte ich Antworten. Warum in Gottes Namen sollte ich Ihnen trauen? Was haben Sie mit Nachtmahren zu schaffen?«
    Als ich das Wort »Nachtmahre« aussprach, erschlafften seine Züge und er sah mich so verbittert an, dass ich versucht war, tröstend meine Hand auf seinen Arm zu legen.
    »Gut, Fräulein Sturm. Dann erzähle ich es Ihnen«, begann er leise. Auf einmal wirkte sein Körper alt und verbraucht. »Ich hatte eine Tochter in Ihrem Alter, ein fröhliches, quirliges Mädchen, voller Pläne und verrückter Ideen und mit einer kunterbunten Fantasie gesegnet.«
    »Das bin ich auch, aber fröhlich und quirlig war ich nie«, unterbrach ich ihn sanft. Mich trieb der Wunsch, wieder ein Lächeln auf seine grauen Züge zu zaubern, und fast gelang es. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort.
    »Eines Tages veränderte sie sich ... Sie lachte weniger, schrieb keine Geschichten mehr, ging kaum noch aus, verkroch sich, hörte auf, Sport zu treiben. Und eines Morgens lag sie mit gebrochenem Genick auf dem Bürgersteig. Ich war in der Klinik in dieser Nacht, aber meine damalige Frau hatte sie entdeckt, wie sie auf dem Dachfirst stand, im dünnen Nachthemd mitten im Winter, den Kopf in den Nacken gelegt, die Arme ausgebreitet. Meine Frau machte den Fehler, sie anzusprechen ... Sie fiel und starb sofort. Wenigstens musste sie nicht leiden. Zumindest nicht im Todeskampf.«
    »Sie ist geschlafwandelt«, flüsterte ich betroffen.
    Er beugte sich vor und griff wieder nach meinen Händen. »Nein. Sie ist zuvor kein einziges Mal im Schlaf umhergegangen, Elisabeth. Etwas hat sie gelockt. Und sie wollte sich auch nicht umbringen, wie manche behaupteten. - Warum stehen Menschen im Schlaf auf und treiben die unmöglichsten Dinge? Warum?«
    Er ließ mich los, fasste mit beiden Händen um die Tischkante und umklammerte sie, bis die Knöchel weiß hervortraten. Langsam beugte er sich zu mir, um mich fest anzusehen. Ich brachte keinen Ton heraus. Wir dachten ohnehin das Gleiche. Es war ein Mahr gewesen. Das war es, was wir vermuteten. Außerdem hatte ich den
    Eindruck, dass Dr. Sand reden musste, um seinen Schmerz zu besiegen, der ihn in diesem Moment wieder heimgesucht hatte. Also ließ ich ihn reden - schnell und gehetzt, als sei er auf der Flucht.
    »Nehmen wir Marco. Die Ursache seines Traumas ist klar. Daran gibt es keinerlei Zweifel. Das waren die Menschen. Aber stellen Sie sich vor, wir könnten einen Mahr dazu bringen, ihn von seinem Trauma zu erlösen - er wäre in der Lage, ein einigermaßen normales Leben zu führen, vielleicht sogar eine Familie zu gründen! Das ist es, was Ihr Vater vorhatte, nicht wahr?«
    »Vorhat«, verbesserte ich ihn.
    »Das da draußen, das sind nur drei meiner Patienten. Soll ich Ihnen etwas verraten, Elisabeth? Die Wissenschaft hat keine Ahnung von Schlaf und Traum. Wir tappen im Dunkeln, im wahrsten Sinne des Wortes. Und ich glaube wie Ihr Vater, dass die Mahre uns helfen könnten, aber auch, dass sie die größte Plage sind, die Gott uns je geschickt hat.«
    Nun, da gab es noch die Pest und Aids und Tsunamis und Erdbeben und Ed Hardy und Modern Talking, doch ich wollte ihm jetzt nicht widersprechen, obwohl er sich gefangen hatte und seine Augen erneut zu blitzen begannen.
    »Ich weiß«, sagte ich stattdessen. »Colin hat mir davon erzählt. Aber er hat auch gesagt, dass es quasi unmöglich

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