Scherbenmond
haben, Elisabeth. Sie sind eine HSP, wussten Sie das? Hochsensible Person. Sie empfinden auch das, was gar nicht Sie persönlich betrifft, als würde es in Ihnen selbst stattfinden. Das erschwert Ihnen das Leben. Und deshalb weiß ich nicht, ob Sie den gleichen Weg einschlagen sollten wie Ihr Vater.«
Mein Vater ... Er kannte meinen Vater?
»Wissen Sie, wo er ist? Sind Sie vielleicht selbst ein ... Halbblut?«, sprach ich ohne Vorwarnung und hörbar aufgeregt das aus, was schon die ganze Zeit als vager Verdacht durch meinen Kopf flirrte. Der Arzt lachte erheitert auf. Auch das schien er gut trainiert zu haben.
»Nein. Nein, das bin ich nicht. Dem Herrn sei Dank. Darf ich mich vorstellen? Dr. Sand, Schlafmediziner. Sie können mich gerne Sandmann nennen. Manchmal vergesse ich, dass ich eigentlich Sand heiße. Alle hier nennen mich den Sandmann.«
»Elisabeth Sturm«, erwiderte ich lahm, obwohl es überflüssig wie ein Kropf war. Er hatte meinen Namen ja bereits in Erfahrung gebracht. Und zwar nicht, wie ich anfangs gedacht hatte, über meinen Bruder. »Sie kennen meinen Vater also.«
»Ja, sehr gut sogar. Er hat sich mir anvertraut. Und ich glaube ihm.«
»Sie glauben ihm ...«, schluchzte ich und fühlte mich einen Wimpernschlag lang wie erlöst. Dr. Sand reichte mir ein Taschentuch. Ich schnäuzte mich kräftig. Irgendwie hatten sich all die mühevoll unterdrückten Tränen in meiner Nase versammelt. Sobald ich mich von ihnen befreite, beschloss die Nachhut, aus meinen Augen zu flüchten.
»Ja. Ich glaube ihm. Er hat mir in regelmäßigen Abständen ein Zeichen zukommen lassen, dass alles in Ordnung ist. Doch nun ...« Er sah mich fragend an.
»Er ist verschollen«, brachte ich seinen Gedanken heiser zu Ende. »Seit Neujahr. Sie wissen also nicht, wo er sein könnte?«
Dr. Sand schüttelte den Kopf. »Nein, es tut mir leid, Elisabeth. Ich weiß nichts. Alles, was ich wusste, war, dass er eine Tochter hat, die ebenfalls eingeweiht ist. Die ... ja, die sich sogar mit einem von ihnen eingelassen hat. Sie sind mutig, Elisabeth. Um nicht zu sagen, vollkommen leichtsinnig.« Ein Schmunzeln huschte über seine Mundwinkel und diesmal hatte ich nicht den Eindruck, als sei es trainiert worden.
»Das liegt wohl im Auge des Betrachters«, entgegnete ich schnippisch. »Okay, Sie wollten wissen, wer diese Wahnsinnige ist, die sich in einen Mahr verliebt hat. Voilà, hier bin ich. Aber warum haben Sie mich dann nicht einfach angerufen? Warum dieser Umweg über eine Stellenzusage für eine Putzstelle? Und wieso diese Patientenbesichtigung? Ich bin nicht Ihr Versuchskaninchen.«
Sein Schmunzeln verbreiterte sich. »Ich wollte Ihren Instinkt testen. Offensichtlich funktioniert er vortrefflich.«
»Sie hätten mich auch einfach anrufen können.«
»Ich wollte die Worte >Mahr< oder >Traumraub< nicht in einem Telefongespräch fallen lassen«, entgegnete Herr Sand unbeeindruckt. »Vorsicht ist... «
»... die Mutter der Porzellankiste. Ich weiß. Ist einer meiner Lieblingssprüche.« Ich atmete prustend aus. »Aber was hat mich denn Ihrer Meinung nach bewegt hierherzukommen, anstatt anzurufen oder Ihnen zu mailen? Hellsehen kann ich schließlich nicht. Es war ein blöder Zufall, weil ich gerade nichts Besseres zu tun hatte«, sagte ich und spürte am ganzen Körper, dass ich log.
»Sie zweifeln an der Macht der Intuition, Fräulein Sturm?«
»Ich bin nicht gerade esoterisch veranlagt«, gab ich kühl zurück.
Dr. Sand brach in ein schallendes Lachen aus, fing sich aber sofort wieder.
»Sehen Sie sich den Brief noch einmal an. Und zwar ohne ihn zu lesen. Betrachten Sie das Gesamtbild.«
Seufzend faltete ich ihn auf. »Und was hat das mit meiner Intuition zu tun?«
»Intuition gehorcht keinen esoterischen Schwingungen. Sie gehorcht der Logik - einer feinen, kaum wahrnehmbaren Logik. Sie richtet sich nach Vorzeichen. Das meine ich wörtlich. Vorzeichen ...«
Ich stellte meine Augen weich, wie damals, als ich mit Colin bei Louis gestanden hatte. Oh. Nun sah ich es auch - und wusste plötzlich, was Dr. Sand meinte. Es waren die Anfangsbuchstaben der ersten drei Sätze, die jeweils mit einem deutlichen Abstand untereinandergesetzt worden waren. L, E, O. Leo. Mein Vater.
Trotz meiner jähen Rührung stopfte ich den Brief achtlos in die Hosentasche und verschränkte die Arme. Mir gefiel es nach wie vor nicht, dass Experimente mit mir gemacht wurden. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass ich Dr. Sand mochte.
»Was
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