Scherbenmond
schrie, kein einziges Mal. Und das von seiner Mutter auf den kalten Dachboden gelegt wurde, weil sie es nicht neben sich haben wollte. Sie fürchtete es wie den Teufel.
»Wo ist seine Mutter?«, fragte ich und presste unwillkürlich die Hände auf meine Ohren, in denen sich das Tacken von Marcos Tastatur nun mit dem verzweifelten Brüllen des Babys vermischte.
»Letzte Nacht erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Sie war am Ende ihrer Kräfte, hat seit der Geburt keine Nacht geschlafen. Sie glaubt, dass sie etwas falsch macht, hat massive Schuldgefühle ...«
»Verdammt, was tut die Schwester da?« Meine Finger suchten nach dem Türgriff, doch er gab nicht nach. Am liebsten wäre ich in das Zimmer gestürzt und hätte ihr das Kind aus den Armen gerissen, obwohl sie liebevoll mit ihm umging. Aber sah sie nicht, dass es sich vor dem Bett fürchtete? Es wollte darin nicht liegen, kapierte sie das denn nicht? Und hatte Colins Mutter nicht gespürt, wie allein und einsam er gewesen war? Hatte sie nicht gemerkt, dass er alles mitbekam, von der ersten Sekunde an - dass er verstand, wie einsam er war? Er hatte es nicht nur erduldet. Er hatte es verstanden.
»Sie bringt ihm das Schlafen bei.« Ich versuchte, die Stimme des Arztes abzuschütteln wie eine lästige Mücke. »Jeder Mensch braucht Schlaf, verstehen Sie? Das Baby muss schlafen lernen. Das ist das Einzige, was wir tun können, und manchmal funktioniert es - vorausgesetzt, sie ist rund um die Uhr bei ihm. Ein harter Job. Wenn sie Feierabend hat, weiß sie, was sie getan hat.«
»Warum will es denn nicht schlafen?«, fragte ich verzweifelt.
»Es hat Angst«, antwortete der Arzt. »Haben Sie sich schon einmal überlegt, was Babys wohl für Träume haben? Sie könnten eine Delikatesse sein.« Seine grauen Augen glitzerten, als er mich ansah. Mit einem Schlag verschwanden die schwarzen Flecken. Meine Fingerspitzen wurden taub. Ich wich dem Blick des Doktors nicht aus, obwohl mir ein Schauer über den Rücken kroch. »Denken Sie nach, Elisabeth. Warum will das Baby nicht schlafen? Warum? Wovor fürchtet es sich? Ich empfehle jungen Eltern, ihr Kind bei sich schlafen zu lassen. Es scheint zu helfen. Womöglich hält es sie ab ... Wer weiß, was sie anrichten können?«
Er fuhr sich über seinen kahlen Schädel, als wolle er damit seine eigenen dunklen Gedanken vertreiben. Meine Knie gaben nach und ich rutschte ein Stück an der Glaswand entlang nach unten, meinen Rücken fest an die kalte Scheibe gepresst. »Stellen Sie sich vor, welch eine Tragödie: Die Mutter kommt morgens ins Zimmer und ihr Baby ...«
»Nein, seien Sie still, bitte, bitte! Ich will das nicht hören!« Ich trat von der Wand weg und torkelte blind vor Tränen in Richtung Fenster. Ich spürte es selbst ... Ich spürte diese fassungslose Trauer, den alles hinabreißenden, grellen Schreckmoment, der niemals vergessen werden konnte ... und sah plötzlich Colin, der als winziges Bündel im eisigen Wind auf der Kuppe eines Hügels lag, weit und breit keine Menschenseele, sein Gesicht von Schneekristallen bedeckt. Geboren als Dämon und von Anfang an gehasst. Ausgesetzt zum Sterben? Ich wollte ihn trösten, ihn davon heilen, es von ihm nehmen, und gleichzeitig gehörte er zu jenen Wesen, die sich am Schlaf von Menschen vergriffen.
Haben Sie sich schon einmal überlegt, was Babys wohl für Träume haben? Sie könnten eine Delikatesse sein.
Der Arzt fing mich ab, bevor ich fiel, und stützte mich, sodass ich ihn mehr stolpernd als laufend in sein Büro begleiten konnte. Dort ließ er mich auf den bequemen Besuchersessel sinken und nahm meine zitternden Hände in seine.
»Sie wollen es nicht hören, weil Sie es dann nicht fühlen müssen, Fräulein Sturm?«
Ich erwiderte nichts. Die Emotionen, die mich eben angesichts des panisch schreienden Babys überflutet hatten, verflüchtigten sich nur zäh. Etwas davon würde bleiben, für immer. Einen Moment lang wollte ich lieber tot umfallen, als mich all den Gefühlen zu stellen, die mich in diesem Leben noch aus der Bahn werfen konnten, ob sie nun mir gehörten oder nicht. Und meine eigenen reichten mir eigentlich voll und ganz.
»Also ist es so, wie ich ahnte ...«, sagte der Doc leise. »HSP.«
Ich hob misstrauisch den Kopf.
»Was sollte das Ganze?«, fragte ich bissig, obwohl der Schwindel nur langsam nachließ. »Wollten Sie mich testen? Vorführen? Es ging nicht um die Patienten, oder? Sie waren nur Mittel zum Zweck.«
»Sie werden es nicht leicht
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