Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
bin hässlich, denn ich erwecke Hass. Ich bin anders. Du weißt, warum ich diese Kleider trage und die Ringe, aber du hast es vergessen, hast es nicht mehr fühlen können, weil du nicht fühlen willst.«
    Ich blickte an ihm vorbei, starr und unbewegt. Ein Teil von mir wollte sich bei ihm entschuldigen, ihn um Verzeihung anflehen für das, was ich gesagt hatte. Doch ein anderer Teil genoss es, so hart und gemein zu ihm gewesen zu sein. Zu ihm und damit auch zu mir selbst.
    »Erzähl mir, was passiert ist. Was habe ich gesehen?«, fragte ich tonlos, obwohl ich es schon ahnte. Meine Hände rutschten von meiner Brust und sanken auf das Laken.
    »Ich wollte neue Papiere beantragen, wie so oft mit gefälschten Ausweisen, um eine Weile in Deutschland bleiben zu können. Du weißt ja, ich habe eine Schwäche für deutsche Wälder. Doch ich war ihnen sofort suspekt, und anstatt mich wieder gehen zu lassen, befragten sie mich, fanden Ungereimtheiten, Verdachtsmomente. Ich passte ins Schema, verstehst du? Ich war anders. Dazu die dunklen Augen, meine Nase ... Ich bot ihnen eine ganze Reihe von Gründen.«
    Colin hielt inne, um sich zu sammeln, und mit einem Mal begriff ich, dass es ihn ebenso viel Anstrengung kostete, davon zu erzählen, wie mich, es mir anzuhören. Denn der Nebel in meinem Kopf lichtete sich mit jedem Wort und die gefrorene See in meinem Inneren begann sich zu regen, sosehr ich sie auch unter ihrem Panzer gefangen halten wollte.
    »Warum hast du denn überhaupt Papiere beantragt? Du brauchst sie doch nicht, du kannst ohne sie existieren, oder?«
    Colin wandte sich für einen Moment von mir ab. »Mein alter Fehler«, sagte er schließlich. »Ich wollte so sehr Mensch sein wie nur möglich, mich vielleicht sogar für den Krieg verpflichten - auf welcher Seite, war mir egal. Immerhin wäre ich an der Front sicher gewesen. Keine Frauen, keine Tessa. Vielleicht wäre meine Kaltblütigkeit dort etwas wert gewesen. Vielleicht hätte man mich dafür geschätzt.«
    »Oh Gott, Colin ...« In den Krieg ziehen, um als Mensch wahrgenommen zu werden, egal, auf welcher Seite? War das denn Menschsein - andere Wesen töten?
    »Ich weiß. Es war dumm. Und es kam, wie es kommen musste: Ich machte mich verdächtig und sie brachten mich in eines ihrer Lager, wo ich erst arbeiten sollte und dann sterben. Ich habe den Ernst der Situation nicht erkannt, dachte, ich könnte fliehen, wann immer ich wollte, sobald sich eine Gelegenheit bot - nachts, wenn ich am stärksten bin. Aber all die Angst und der Schrecken, die schlechten Träume um mich herum haben mich sofort hungern lassen. Und ich wollte nicht jenen Menschen ihre Träume rauben, die noch welche hatten, denn es war das Einzige, was sie besaßen, und die Träume der Aufseher widerten mich an. Sonst gab es nur die Angst und den Tod. Schon nach wenigen Tagen war ich so krank und ausgemergelt wie sie.«
    Ich konnte die Übelkeit in meiner Kehle kaum mehr kontrollieren, doch meine Hand blieb neben mir auf dem Laken liegen. Ich hob sie nicht.
    »Irgendwann fingen sie mit den Vergasungen an. Du weißt, was sie sagten: Ihr sollt duschen, euch waschen. Dann kam das Gift aus den Düsen. Nur ich überlebte. Natürlich stellte ich mich tot, aber ...«
    »Ich weiß es«, wisperte ich. »Ich hab es gesehen. Ich war in dir gefangen. Ich war du.«
    Wir schwiegen, während draußen das Wasser gurgelte. Die Flut kam. Ich hätte gerne das Fenster geschlossen, doch ich vermochte nicht, mich zu bewegen. Colin tat es für mich, obwohl er es hasste, eingesperrt zu sein. In diesen stillen Minuten vielleicht mehr denn je.
    »Sie haben Experimente mit mir gemacht, als sie feststellten, dass das Gas mir nichts anhaben konnte, doch auch die Experimente ...«
    Colin schaffte es nicht, zu Ende zu sprechen. Aber das war nicht notwendig. Ich hatte es schon damals in der Schule nicht begreifen können und ich begriff es immer noch nicht. Ich glaubte es, ja, und ich wusste es, doch ich begriff es nicht. Medizinische Experimente hatten dazugehört. Es ging schließlich darum, zu züchten und auszumerzen. Der Massenmord war nur das Mittel zum Zweck.
    »Wie hast du es geschafft, wieder rauszukommen?«, fragte ich, nachdem ich mein Würgen in meinen leeren Magen zurückgezwungen hatte. Ein bitterer Geschmack kroch auf meine Zunge.
    »Tessa. Sie hat mich befreit. Sie zog mich eines Nachts aus dem Leichenhaufen und floh mit mir über die Zäune.« Colin wandte sich ab und verbarg das Gesicht in seinen Händen. Ein

Weitere Kostenlose Bücher