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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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ob es dir passt oder nicht.«
    Mein Mund war es nicht mehr gewohnt zu lachen und meine Mundwinkel zitterten, als sie sich verzogen - doch ich schlief ein mit einem Lächeln im Gesicht.

Pavor nocturnus
    Ein langes, forderndes Knurren weckte mich und ich brauchte eine Weile, um es zuzuordnen. Es war mein Magen, der sich beklagte. Ich hatte einen Bärenhunger. Noch genoss ich es, überhaupt wieder Hunger zu haben, und hielt die Augen geschlossen, um sie erst dann zu öffnen, wenn ich sicher war, dass ich die Welt um mich herum sehen wollte. Denn sie fühlte sich verändert an. Sie roch anders. Nach Herrenparfum und Sägemehl und - Lack? Farbe? Außerdem war da ein feines Tabakaroma, das meine Nase umschmeichelte. Und die Bettdecke schmiegte sich glatter und seidiger an meine Hände als meine eigene. Teurer.
    Langsam und noch immer blind richtete ich mich auf und lehnte mich an den Kopfteil des Bettes. Auch das fühlte sich anders an. Rattangeflecht, kein Holz.
    Ich ließ meine Lider nach oben klappen und blickte in das rubinrote Auge einer Schlange. Genau, es war dieses riesige Gemälde mit der gewundenen blauen Schlange, das mich immer wieder aus Pauls Schlafgemach verscheucht hatte. Ich mochte es nicht. Es hing direkt gegenüber seinem Bett an der Wand, die sein Zimmer von meinem trennte.
    Doch jetzt konnte es mich nur kurzfristig beunruhigen, denn die Situation, in der ich mich befand und derer ich nur ungläubig gewahr wurde, hätte sogar jedem lebendigen Schlangenpfuhl die Show gestohlen. Minutenlang saß ich da und versuchte zu verstehen, was passiert war. Ich merkte, dass mein Mund offen stand, war aber zu verblüfft, um etwas daran zu ändern. Mein Magen nutzte die Gelegenheit, seine bohrende Leere ein weiteres Mal sonor knurrend kundzutun.
    Colin hatte sein Versprechen nur zur Hälfte gehalten. Ich war nicht allein. Das stimmte. Ich hatte sogar gleich doppelt Gesellschaft - einen Mann zu meiner Linken und einen zu meiner Rechten. Doch keiner von beiden war Colin.
    Das Knurren meiner Eingeweide änderte spontan seine Tonhöhe und glitt in ein glockenhelles Betteln über.
    »Ist gut, alles gut«, murmelte Paul im Schlaf und schlang seinen Arm um meine Beine, um mich zu sich zu ziehen. Mit spitzen Fingern griff ich nach seinem Handgelenk und löste es von meinem Knie, obwohl mich seine rasche Reaktion rührte. Sie erinnerte mich an unsere Kindertage. Manchmal hatte er mich zu sich geholt, wenn ich mich nachts fürchtete (meistens vor Spinnen), und selbst im Tiefschlaf die feinsten meiner Regungen wahrgenommen. Wie jetzt. Er hatte noch immer einen guten Instinkt für mich.
    Der Mann - nun, vielleicht war es eher ein Junge - zu meiner Linken machte keinerlei Anstalten, mich anzufassen, doch mir entging nicht, dass seine Hand neben meinem Körper ruhte, bereit, jeden Moment zuzupacken und - ja, was? Mich festzuhalten? Ich wusste zu gut, dass seine Reaktionen nicht minder flink waren als die meines Bruders, und dazu eine gute Portion aggressiver.
    Versunken studierte ich sein Gesicht, das ich noch nie so still hatte ruhen sehen. Es hatte sich aufs Neue verändert, war gereift und - oh, es hatte ihm nicht geschadet. Das markante Kinn verriet seinen halsstarrigen Charakter und ergänzte sich harmonisch mit der geraden Nase und der geschwungenen Linie seiner Wangenknochen. Die Lippen waren voller geworden, ohne ihre Schärfe zu verlieren. Sein provokant freches Grinsen, aber auch seine Nachdenklichkeit
    schlummerten in ihren feinen Winkeln. Das Haar hatte sein Rot fast vollkommen verloren, es hatte sich in ein Blond mit schwachem rötlichen Glanz verwandelt. Umso krasser erschien mir sein Kontrast zu den dunklen Brauen. Ich wusste, dass sich hinter den geschlossenen Lidern ein warmes, feuriges Braun verbarg. Er sah nicht mehr aus wie siebzehn. Wäre ich ihm jetzt das erste Mal begegnet, hätte ich ihn auf zwanzig geschätzt. Wie Colin. Dennoch - zwischen beiden lagen Sonnensysteme. Tillmanns Gesicht fehlte das Wissen um all die Jahrzehnte. Ich war froh darum. Er war noch jung.
    Er atmete ruhig und rührte sich nicht, doch mir war klar, dass er nicht schlief. Du schläfst nicht, dachte ich und Tillmann schlug die Augen auf, als habe er mich gehört. Sie waren dunkler geworden, wie Mahagoni, und etwas in ihnen veranlasste mich dazu, mit einem kleinen Japsen nach Luft zu schnappen.
    »Ich bin da, bin bei dir, alles gut«, lallte Paul und streckte suchend seine Hand nach mir aus.
    »Schlaf weiter«, flüsterte ich, strich

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