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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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ihm kurz über die Haare und wandte mich sofort wieder Tillmann zu, der in Pauls Bett lag, als sei diese Wohnung sein neues Zuhause, und das seit mindestens vier Wochen. Dieser Gedanke vollendete meine Verwirrtheit.
    »Dein Bruder schnarcht abartig, Ellie.«
    »Ich weiß«, antwortete ich mechanisch. »Polypen.«
    »Polypen?« Tillmann hob skeptisch seine Brauen. »Glaub ich nicht. Schau dir mal seine Nasenlöcher an. Das sind Trichter. Der müsste Luft für zwei kriegen.«
    Er hatte recht - es waren Trichter, obwohl Paul keine breite Nase hatte. Ich schüttelte unwillig den Kopf. Pauls Nase war nun wirklich nicht mein wichtigstes Anliegen.
    »Was zum Henker mache ich hier?«, zischte ich.
    »Pavor nocturnus«, sagte Tillmann ungerührt und streckte sich, bis seine Schultern knackten. Paul seufzte leise im Schlaf auf.
    »Aha«, erwiderte ich verständnislos. Pavor nocturnus. Nie gehört.
    »Und was machst du hier?« Ich fühlte mich plötzlich eingepfercht zwischen diesen beiden Männern, wollte aber weder über Paul noch über Tillmann klettern, um meine Freiheit zurückzuerlangen. »Reden. Küche«, befahl ich stattdessen wispernd.
    Tillmann stand auf, ließ mich aus dem Bett krabbeln und folgte mir auf leisen Sohlen. Ich wusste nicht, wie spät es war, doch die Sonne durchbrach gerade den Dunst über den Fleeten und ließ die Marmorfliesen des Küchenbodens in ihrem Licht schimmern. Tillmann gähnte herzhaft. Als sein Mund sich schloss, hörte ich seine Raubkatzenzähne klirren.
    Verwundert musterte ich ihn. Er war gewachsen. Mindestens zehn Zentimeter. Ja, er war so groß wie ich, vielleicht sogar größer ...
    »Ein Meter vierundsiebzig«, vermeldete er, als er meine Blicke registrierte. »Zwölf Zentimeter in drei Monaten.«
    »Autsch«, sagte ich mitfühlend. Das musste wehgetan haben. Plötzlich wurde mir bewusst, dass auch ich noch einen Körper besaß. Abgesehen davon, dass dieser Körper sich nicht im besten Zustand befand und umgehend gereinigt werden musste, hatte er dringende Bedürfnisse, die er jetzt mit aller Macht einforderte.
    »Muss duschen und aufs Klo«, murmelte ich. »Mach bitte Kaffee. Nicht weglaufen.«
    Ich beeilte mich, denn ich hatte Angst, all die Fragen zu vergessen, die durch meinen Kopf wirbelten. Doch als ich mich abtrocknen und anziehen wollte, ließ mein Spiegelbild mich stocken. Vielleicht war es besser, dass Colin und ich im Moment Freunde waren, obwohl mich der Gedanke so schmerzte, dass mir die Tränen in die Augen traten. Aber in diesem Zustand wollte ich mich ihm nicht zeigen. Meine Rippen traten hervor und meine Oberschenkel waren eindeutig zu dünn. Das Einzige, was mir noch einigermaßen akzeptabel erschien, war mein Hintern. Ich zog mich schnell an, um das Trauerspiel nicht länger ansehen zu müssen, und wrang das Duschwasser aus meinen Haaren. Mein Gesicht war extrem blass - um nicht zu sagen, untot -, doch meine Augen hatten ihre bleierne Stumpfheit verloren, die mich in den Tagen meiner Krankheit dazu gebracht hatte, mich sofort wieder vom Spiegel abzuwenden, wenn ich zufällig hineingesehen hatte. Wissbegierig und aufmerksam blickten sie mir entgegen.
    Zum ersten Mal seit der Nacht auf Trischen - wie lange sie zurücklag, wusste ich nicht, aber es konnte sich nicht um viel mehr als ein paar Tage handeln - hatte ich das Gefühl, über meine Zukunft nachdenken zu können. Ja, es gab wieder eine Zukunft.
    Ausgeruht und sehr hungrig kehrte ich in die Küche zurück. Tillmann hatte tatsächlich Kaffee gekocht. Er hockte auf der Arbeitsfläche neben dem Herd und wartete geduldig auf mich.
    »Schön«, seufzte ich und wickelte das Handtuch um meine nassen Haare. »Dann fangen wir mal an. Pavor nocturnus?«
    »Kannte ich vorher auch nicht. Du hast heute Nacht plötzlich aus dem Nichts heraus geschrien und um dich getreten - Mann, Ellie, das war echt spooky. Ich hab noch nie einen Menschen so schreien hören. Als würde jemand versuchen, dich umzubringen. Aber du hattest die Augen geschlossen und wir haben es nicht geschafft, dich zu wecken. Du bist einfach nicht aufgewacht.«
    Ich ließ das Handtuch los und meine Haare fielen kalt auf meine Schultern. Ich konnte mich an nichts erinnern. An gar nichts.
    »Paul hat dann einen Arzt angerufen, einen Dr. Sand von einem Krankenhaus hier aus Hamburg, während du weitergebrüllt hast wie am Spieß. Der Doc meinte, das sei vermutlich Pavor nocturnus. Es käme meistens bei Kindern vor, sei aber nicht schlimm. Wahrscheinlich würdest

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