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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Schauer lief durch seinen sonst so kontrollierten Körper. Er schämte sich. »Ich war ihr dankbar. Und ich verachte mich dafür, denn ohne sie wäre das alles nie geschehen. Ohne sie hätte ich meine Heimat womöglich nie verlassen. Ohne sie wäre deine Seele jetzt noch unverletzt.«
    »Meine Seele war nie unverletzt, Colin«, sagte ich und das Eiswasser überflutete mich, erstickte meinen Hals und kämpfte sich durch meine Augen. Irritiert hob ich meine Finger und legte sie auf meine nassen Wangen, bis ich verstand, dass ich weinte.
    »Himmel, Ellie ... ich dachte schon, du kannst es nicht mehr ...« Noch immer fasste Colin mich nicht an und ich war froh darum, denn ich hätte ihn von mir weggetreten, aber ich musste aufschluchzen, um atmen zu können, und ich erlaubte ihm, sich meiner Tränen anzunehmen und sie aufzufangen. Sie brachten uns Wärme.
    »Weißt du, dass im späten Mittelalter viele Frauen als Hexen verbrannt wurden, weil sie nicht weinten?« Ich sah Colin fragend an und schüttelte den Kopf. Nein, das wusste ich nicht. »Man vermutet heute, dass sie depressiv waren und nicht weinen konnten. Und das war den Menschen unheimlich. Aber wenn ihr sehr traurig oder traumatisiert seid, dann ...«
    »... dann weinen wir nicht mehr«, führte ich seinen Gedanken erstickt zu Ende. Das war es auch, was ich bei Dr. Sand in Marcos Augen gesehen hatte. Es waren Augen, die nicht mehr weinten.
    Colin rückte ein Stück von mir ab. »Nimmst du noch Tabletten, Ellie? Hat dein Bruder auf mich gehört und sie abgesetzt?«
    Ich blickte verdutzt auf. Colin hatte Paul dazu geraten?
    »Es tut mir leid, im ersten Moment war es das Beste, dir starke Medikamente zu geben, und Schlafmittel verhindern nun mal Träume. Aber auf Dauer ist es gefährlich. Das weißt du, oder?«
    Es hatte noch nie Sinn gehabt, Colin etwas zu verheimlichen. Ich griff unters Kopfkissen und warf ihm die Briefchen mit den Pillen zu. Er drückte eine heraus und schnupperte an ihr. Ein schwaches Grinsen vertrieb die Härte aus seinem Gesicht.
    »Und - wirken sie?«
    »Ja, das tun sie sehr wohl«, erwiderte ich schnippisch. »Okay, ich hab ein paar mehr genommen als vorgeschrieben, doch dann ... dann bin ich gut eingeschlafen.«
    »Und aufgewacht, als ich nur zwei Worte zu dir gesagt habe. Schluck sie ruhig alle auf einmal, Ellie. Es lebe der Placeboeffekt. Das ist Baldrian, mein Herz.«
    »Oh Mann. Dieser Hund«, sagte ich verdattert. Dr. Sand hatte mich hinters Licht geführt. Mit Erfolg. Ich war eingeschlafen. »Ich hab trotzdem Angst zu träumen, Colin.«
    Ich richtete mich auf. Der Nebel in meinem Kopf hatte sich endgültig gelichtet. Mein Herz fühlte sich zwar noch kalt an, aber es gehörte wieder zu mir und mir wurde plötzlich klar, wie fürchterlich ich mit Colin umgesprungen war. Wir Menschen seien perfekt im Entlieben, hatte er gesagt. Ich war auf dem besten Weg dorthin gewesen. Vielleicht war ich es immer noch und ich wusste nicht, ob es eine Rückkehr gab zu dem, was wir vorher gewesen waren. Wir hatten uns unsere Unschuld genommen.
    »Was sind wir denn jetzt eigentlich?«, fragte ich schüchtern. Er musste schließlich gemerkt haben, dass ich mich nicht von ihm anfassen lassen wollte. Nicht von ihm und auch von keinem anderen.
    »Auf jeden Fall Freunde«, erwiderte Colin sanft, als wolle er mich beruhigen. »Aber das ist jetzt nicht wichtig. Darüber sprechen wir später.«
    »Später - warum später? Ich möchte jetzt ...« Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Wie konnte er nur so gelassen bleiben? Traf ihn denn gar nicht, was passiert war? Doch eigentlich traf es mich auch nicht.
    Ich wusste, dass etwas zwischen uns zerstört war. Aber noch ließ es mich seltsam unberührt, obwohl ich ahnte, dass es mir irgendwann das Herz brechen würde.
    »Nein. Nicht jetzt. Dein Schlaf war nicht echt in all den Nächten, Ellie. Es war eine Bewusstlosigkeit, aber kein Schlaf. Du hast sie gebraucht, damit dein Körper sich regenerieren konnte. Doch nun musst du schlafen. Ich bleibe bei dir sitzen. Ich schwöre dir, ich fasse dich nicht an. Und ich werde dich sofort wecken, falls die Bilder zurückkommen. Aber du musst schlafen.«
    »Colin ...«, murmelte ich, als ich die Decke über meine Schultern gezogen hatte und meine Beine genüsslich ausstreckte. »Ich muss etwas wissen ... Wirst du da sein, wenn ich aufwache?«
    »Ich werde in der Nähe sein. Ich lasse dich nicht allein. Nicht heute und morgen auch nicht. Aber mein Hemd und meine Stiefel behalte ich,

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