Scherbenmond
du irgendwann aufhören und weiterschlafen. Rausholen könnten wir dich da nicht. So war es auch.« Tillmann zuckte mit den Schultern. »Ich hab deine Lider hochgeschoben und du hast mich angeschaut, doch gesehen hast du mich nicht. Licht an, aber niemand zu Hause. Nach einer Weile bist du still geworden und hast weitergeschlafen. Wir haben dich zwischen uns gelegt, falls es noch mal passiert.«
»Wieso habt ihr denn nicht meinen Vater angerufen?«, fragte ich vorwurfsvoll.
»Ellie ...« Tillmann sah mich zweifelnd an. »Dein Vater ist verschwunden. Oder?«
Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken und rubbelte gedankenverloren mit dem Handtuch über meine feuchten Haare. Natürlich ... mein Vater war verschwunden. Jetzt fiel es mir wieder ein. Er war weg. Und auch alles andere kam mir in den Sinn - dass ich den Safeschlüssel gefunden hatte und Paul befallen und außerdem schwul geworden war. Und dass ich nächste Woche meine mündliche Abiturprüfung bestehen musste, wie ich beim Blick auf den Küchenkalender registrierte. Trischen lag nicht ein paar Tage zurück, sondern ...? Ich rechnete schwerfällig.
»Entschuldige bitte«, murmelte ich zerstreut in Tillmanns Richtung. »Ich hab eine zweiwöchige Suchtkarriere hinter mir.« Oder doch nicht? »Wie lange bist du schon hier?«
»Seit vorgestern.«
»Vorgestern? Aber wieso hab ich das nicht mitbekommen?« Meine Rechenexempel fielen in sich zusammen wie ein schlecht gebautes Kartenhaus. Hier stimmte gar nichts mehr.
»Du hast achtundvierzig Stunden geschlafen. Und die erste Zeit davon ganz ruhig und friedlich. Colin war bei dir. Er hat mich übrigens reingelassen.«
»Ach.« Ich rieb mir über die Stirn. In meinem Kopf herrschte immer noch Chaos. Colin war hier gewesen, trotz des Mahrs. Aber richtig - deshalb war er bei seinem ersten Besuch durchs Fenster gekommen. Um keine Spuren zu hinterlassen. Was ich für totalen Quatsch erklärt hatte, weil ich mich nicht an Pauls Befall hatte erinnern können. Und vermutlich hatte der Mahr endlich eine Fresspause eingelegt, sodass Colin mich erneut hatte aufsuchen können. Jedenfalls hoffte ich das. Aber da Paul noch lebte, musste es so gewesen sein.
»Und warum bist du überhaupt hier? Haben deine Tarotkarten es dir befohlen? Oder ist dem Herrn das winterliche Saunieren im Wald zu langweilig geworden?«
»Tarot«, antwortete Tillmann gleichmütig. »Ich hab meine Jahreskarte gezogen. Und die sagte, dass ich mich von meinen inneren Fesseln befreien und eine Wendung herbeiführen muss. Zumindest hab ich das so interpretiert. Wir müssen etwas unternehmen, Ellie. Gegen Tessa.«
»Ich verliere noch meinen Verstand ...« Stöhnend band ich meine halb trockenen Haare zu einem wüsten Zopf zusammen. »Das denkt übrigens mein lieber Bruder von mir. Dass ich verrückt geworden bin.«
»Ist mir nicht entgangen.« Tillmann grinste mich breit an. Es amüsierte ihn, keine Frage.
»Schön, dass dich das erheitert«, giftete ich. »Paul ist außerdem schwul geworden.«
»Schwul? Dein Bruder? Niemals!« Tillmann lachte auf. »Komm, Ellie, das glaubst du doch selbst nicht... «
»Natürlich glaube ich es nicht!« Ich stopfte mir eine trockene Brotkante in den Mund - eine Hinterlassenschaft von François, der grundsätzlich nur die oberen Brötchenhälften und das Innere der Brotscheiben aß. »Aber er ist seit drei Jahren mit einem Mann zusammen. Einem Galeristen.«
»Ja, das mit der Galerie hab ich mitbekommen«, bestätigte Tillmann zufrieden. »Ich hab Paul gestern geholfen, eine Ausstellung zu installieren, und hab für ihn Filmaufnahmen davon gemacht. Dein Bruder hat handwerklich echt was drauf.«
»Das mag ja sein, doch er hat vorher Medizin studiert! Und ich weiß nun mal, dass das seine Leidenschaft ist. Oder war. - Hast du in der Galerie François kennengelernt?«
Tillmann schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Schluck Kaffee, wobei er mich für eine Sekunde an seinen Vater erinnerte. Oh Gott, sein Vater - wussten seine Eltern überhaupt, dass er hier war? Ich traute Tillmann zu, dass er abgehauen war, ohne die winzigste Nachricht zu hinterlassen. Gleichzeitig drängte sich ein anderer Gedanke in mein Bewusstsein, während ich Tillmann betrachtete, wie er auf der Arbeitsplatte hockte, mit entspannt hängenden Schultern, das Gesicht über die Kaffeetasse gebeugt und die Lider gesenkt... Mamma mia, er war die pure Verführung für jeden auch nur ansatzweise homophil fühlenden Mann. Wenn Paul schwul war, musste
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