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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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wollte mich meinen Tagträumereien überlassen. Doch lange bevor der letzte Ton verklungen war, hatte mich die verstörende Gewissheit gepackt, dass ich das Tagträumen verlernt hatte. Die Bilder blieben fern und farblos. Ich spürte sie nicht und sie bewegten nichts in mir.
    Starr lag ich auf meinem Laken, bis die Nacht kam und mir das Bewusstsein raubte.

Nachtbegegnung
    Sommer. Ja, es war wieder Sommer ... Ich roch es, bevor ich die Augen öffnete. Und ich hörte es. All die leisen Geräusche von draußen klangen klarer, feiner, wärmer. Sonnendurchtränkt. Und doch nahm ich eine dunkle, schwere Melancholie darin wahr. Die Amsel vor meinem Fenster sang sehnsüchtig und schrill und das Rauschen in den Bäumen war durchmischt mit jenem zarten, trockenen Knistern, das den Tod der ersten fallenden Blätter ankündigte. Im Duft des Windes nistete die süße Würze beginnender Fäulnis.
    Was war geschehen? Wie hatte ich so blind sein können? Ich hatte den Sommer verpasst. Er war schon am Welken, vielleicht gab es noch ein, zwei letzte heiße Tage, doch die Nächte würden bereits vom Herbst erzählen. Und ich hatte den Sommer nicht gesehen. Nicht ausgekostet. Ich hatte kein einziges Mal die Sonne auf meiner Haut gespürt. Er war an mir vorbeigezogen und ich konnte ihn nicht zurückholen.
    Ich lief ans Fenster und schaute hinaus, um zu finden, was ich ahnte: Die Blätter verfärbten sich an ihren Spitzen, dünne bräunliche Spuren, das Gras war trocken und ausgedörrt und der Gesang der Amsel klang immer verzweifelter.
    Ich würde einen weiteren Winter nicht ertragen. Nicht jetzt. Ich hatte keine Kraft für einen zweiten Winter, hatte zu wenig Wärme gespeichert - es durfte nicht sein!
    »Nein«, sagte ich und begann zu schreien, und noch während ich
    schrie, warfen die Bäume ihre Blätter ab und der Himmel verdunkelte sich. Zu spät... es war zu spät...
    Ich schreckte hoch und merkte als Erstes, dass ich tatsächlich schrie. Meine Stimmbänder krächzten gequält, doch es dauerte ein paar Sekunden, bis ich ihnen befehlen konnte zu schweigen. Gehört hatte mich niemand. Einen solchen Schrei hörten die anderen nicht. Er galt nur einem selbst.
    »Es ist März«, flüsterte ich. »Mitte März, Ellie. Der Sommer kommt noch. Du hast nichts verpasst.« Nun verstummte auch mein inneres Schreien. Ich würde alles erleben, die ersten Knospen, das weiche Gras unter meinen nackten Füßen, das Zirpen der Grillen. Nach und nach. Ich musste nur ein wenig Geduld haben und wach bleiben.
    Ich trug noch immer meine Jeans und meine Strickjacke, angelte mir aber zusätzlich meine graue Fleecekapuzenjacke vom Boden, die ich mir im Herbst in einem jähen Anfall von Colin-Nostalgie gekauft hatte. Ich konnte sie gebrauchen, denn es war eine eisige Nacht. Ich öffnete das Fenster und blickte hinaus auf die Straße. Mein Atem stockte, als ich die lange, schmale Gestalt wahrnahm, die gegenüber an der Wand des verlassenen Hauses lehnte.
    Mein Körper reagierte innerhalb von Sekundenbruchteilen mit nackter Angst. Angst vor dieser Gestalt da unten, deren Augen ich nicht sehen, nur spüren konnte. Mein Magen zog sich krampfartig zusammen und mein Blut schoss in meine Arme und Beine. Ich war fluchtbereit.
    Ich schlüpfte in meine Boots und nahm im Dunkeln die Treppe, schlich durch den Wintergarten ins Freie und auf die menschenleere Straße hinaus. Ja, sie war menschenleer. Denn diese Gestalt war kein Mensch.
    Schweigend liefen wir der Kuppe des Feldweges entgegen, vorüber an der Eiche, deren kahle Zweige feucht glänzten. Oben auf der An-höhe öffnete Colin das Gatter der Weide, auf der seit dem Herbst drei alte Ponys ihren Lebensabend verbrachten, und steuerte den offenen Holzwagen an, dessen Ladefläche als Lager für Heuballen genutzt wurde. Die Ponys wichen schnaubend zurück, doch ein leises, samtenes Summen aus Colins Kehle nahm ihnen die Furcht.
    Ich ließ mich von ihm leiten, ohne nachzudenken. Jeder Gedanke war verlorene Liebesmüh - er hätte mich ohnehin nicht retten können. Mein schlimmster Feind lauerte in meinem Herzen.
    Ich setzte mich an das andere Ende des Wagens; nah genug, um mit Colin sprechen zu können, ohne meine Stimme erheben zu müssen, aber weit genug weg, um ihn nicht versehentlich zu berühren, wenn ich mich bewegte.
    »Wir sind also nicht in Gefahr?«, beendete ich unser Schweigen.
    »Tessa mag dumm sein, doch sie hat einen guten Instinkt für Liebe. - Nein, wir sind nicht in Gefahr.«
    Ich wusste, was er mir

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