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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Paul weiter aus und dazu ist Paul noch auf ewig an einen neurotischen Galeristen gefesselt. Das treibt ihn ins Grab.«
    »Und du hältst es für ausgeschlossen, dass er den neurotischen Galeristen liebt?« Tillmann hob die Hand, bevor ich protestieren konnte. »Nein, andere Frage. Du glaubst also, dass Paul schwul geworden ist, weil er von einem Mahr befallen wird?«
    »Jein. Ich glaube, dass er durch den Befall vergessen hat, was und wie er ist. Seine Gefühle verkümmern, er entfremdet sich. Und somit ist er beeinflussbar. Ich habe aber keinen Zweifel daran, dass François Paul - will. Der will ihn wirklich. Mit Haut und Haaren.« Ich stockte, weil ich registrierte, dass ich mich nicht überwinden konnte, »liebt« zu sagen. Nur »will«. Dabei war Paul sehr wohl jemand zum Lieben. Nur - war François jemand, der aufrichtig fühlen konnte? Der wusste, was Liebe war?
    Tillmann gähnte und kroch unter seine Bettdecke. Auch ich legte mich hin. Zwischen unseren beiden Betten befand sich ungefähr eine Armlänge Platz. Ich hoffte, dass das in Colins Augen nah genug war.
    »Ich will jetzt nicht mehr über François reden«, verkündete ich. »Die beiden werden nicht zusammenziehen. Wir brauchen einen anderen Plan.«
    »Ich werde heute Nacht drüber nachdenken, okay?«, fügte sich Tillmann bereitwillig meinem harschen Diktat. »Sag mal, Ellie, was meinte Colin eigentlich mit diesem Stümper?«
    »Geht dich nix an.«
    Tillmann schwieg, doch ich wusste, dass er grinste.
    »Hast du dazu vielleicht ebenfalls eine Ladung Senf übrig, die du dringend loswerden möchtest?«, fragte ich geduldig, obwohl er meine Nerven langsam überstrapazierte.
    »Ich glaub, das erste Mal wird überschätzt. So ähnlich wie Valentinstag.«
    Wider Willen musste ich kichern. »Aha. Der Fachmann spricht.«
    »Bei mir war’s auch nicht so toll, aber eben das Tor zu einer neuen, wunderbaren Welt.«
    Ich biss ins Kopfkissen, um nicht laut zu lachen, und doch hatte ich einen Kloß in der Kehle. Mein Tor zu dieser ach so wunderbaren Welt war vor Kurzem wieder zugeschlagen worden. Und es schien tonnenschwer zu sein. Nur eine Armee konnte es sprengen.
    »Es war eine Italienerin«, sagte Tillmann bedeutsam und wir stockten im gleichen Moment, um erschrocken die Köpfe hochzureißen und uns anzusehen.
    »Nein, nicht Tessa!«, rief Tillmann eilig. »Nee. Das war bei einem Schüleraustausch. Verdammt, ich meine doch nicht Tessa!«
    »Gut.« Wir ließen uns wieder zurück ins Kissen fallen.
    »Also, mit Colin, er und du im Bett... wie ist das eigentlich so bei einem Mahr, ich meine, im Detail, du hast ja mal gesagt, die können sich nicht fortpflanzen, und wenn ich mir das konkret vorstelle ... Kommt da vielleicht gar kein -«
    »Es macht puff und dann rieseln ein paar Konfetti durch die Luft«, schnitt ich ihm gereizt das Wort ab. »Hast du Quasselwasser getrunken? Früher warst du so schön schweigsam. Jetzt wird geschlafen. Verstanden?«
    »Mach dich locker, Ellie. Bleibt alles in diesen vier Wänden. -Konfetti wird übrigens auch überschätzt«, flachste Tillmann und ich knipste entnervt das Licht aus.
    Als ich endlich einschlief, lag Tillmann immer noch wach, seine dunklen Augen auf die Zimmerdecke gerichtet, und ich spürte, wie seine Gedanken sich zu neuen Waffen formten.

Insomnia
    Es war genau wie bei unserer Fahrt zurück nach Hamburg - ich saß am Steuer, Tillmann neben mir und in einem beklemmenden Déjà-vu riss ich das Lenkrad herum und polterte in den Wald hinein, um mich endlich davon zu überzeugen, was mit Colins Haus passiert war. Beim ersten Mal hatte ich nicht gewagt hineinzugehen. Beim zweiten Mal hatte er es mir nicht erlaubt.
    Jetzt aber war die Zeit gekommen. Ich wollte es wissen. Der Wagen rumpelte schwer über die frostharten Wege, doch die Spinnweben waren verschwunden. Hatte ich sie mir nur eingebildet? Schon wieder zweifelte ich an meinen Sinnen.
    »Hey, Tillmann, hast du all die Spinnen gesehen, als du ...?« Ich blickte zur Seite und trat sofort auf die Bremse. Tillmann saß nicht mehr im Auto. Irritiert schaute ich mich um. Da war er, vorne zwischen den Bäumen - auf allen vieren und geduckt wie eine Raubkatze schlich er den Weg entlang und auf all die Wasserstraßen zu, die Colin in die gefrorene Erde gegraben hatte, um sein Haus vor ihr zu schützen. Ihr den Zutritt zu verwehren, falls sie es noch einmal wagen sollte, es aufzusuchen. Einen kompletten Bach hatte er umgeleitet. Tillmann erreichte den Rand des vorderen

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