Scherbenmond
kompromisslos, wie Du bist, splitternackt aus und legst Dich auf ein Bett. Und es endete mit Scham? Was für ein Stümper muss er gewesen sein!«
Tillmann räusperte sich bedeutsam, doch mein strenger Blick ließ ihn fortfahren. Folgsam las er weiter.
»Und noch etwas: Mahre mögen es nicht, wenn Menschen nebeneinander oder gar in Gruppen schlafen. Manche von den Alten behaupten, die Mahre seien entstanden, als die Menschen anfingen, sich so sicher zu fühlen, dass sie nachts allein schliefen. Sich Häuser mit einzelnen Räumen erbauten. Das Schlafzimmer - für Euch heute absurderweise ein Symbol der Geborgenheit - bereitete den Mahren den Weg. Es war wie eine Einladung.
Wenn Eure Träume ineinander übergehen, scheint sich aus ihrer Kraft eine Art Wall zu bilden - und gleichzeitig nehmt Ihr unbewusst die Geräusche der anderen Schlafenden wahr und fallt nicht in jenen totenähnlichen Tiefschlaf auf den die Mahre warten und den sie Nacht für Nacht mit ihrer hypnotischen Macht fördern, zum Befall nutzen und schließlich damit zerstören. Möglicherweise hat das Gähnen deshalb eine solch ansteckende Wirkung. Diese Wirkung sicherte, dass die Menschen gemeinsam schliefen. (Ich werde Dich damit niemals anstecken können, denn ich kann nicht gähnen. Ich mag es aber, wenn Du es tust und ich all Deine scharfen Zähne sehen kann.)
Ich habe das, was ich Dir eben geschildert habe, nur gehört; ich kann nicht mit Gewissheit sagen, ob es stimmt, doch als ich mich noch von Menschenträumen ernährt habe, suchte ich instinktiv Mädchen und Frauen auf, die allein schliefen. Es könnte also etwas dran sein.
Ich bitte Dich ungern darum, weil mir die Vorstellung gar nicht behagt aber es könnte nun mal einen guten Schutzschild darstellen: Ich weiß, dass Du Tillmann mit nach Hamburg nehmen willst, und möchte, dass Ihr nebeneinander schlaft. Ich hoffe, Du hältst das aus. Er erscheint mir sehr wach und aufmerksam. Ich glaube, ihm entgeht nichts. Du hingegen bist erschöpft und müde. Also suche seine Nähe und sieh zu, dass seine Hände auf der Bettdecke ruhen, wenn Du einschläfst.«
Tillmann ließ den Brief sinken. Ich war nicht imstande gewesen, ihn selbst vorzulesen, deshalb hatte ich ihn ihm gegeben und ihn gebeten, es laut zu tun, damit ich mir während des Zuhörens Gedanken darüber machen konnte. Ich schaffte es nicht, Tillmann in eigenen Worten von dem Raub zu berichten. Er würde sich den Rest zusammenreimen können, nachdem er den Brief in seiner vollen Länge kannte.
»Also echt. Ich werde mich ja wohl noch nachts am Sack kratzen dürfen.«
Ich schüttelte grinsend den Kopf. »Du darfst.«
»Außerdem ...«
»Ja. Ich weiß, dass du nicht auf mich stehst. Nun lies schon weiter.«
Tillmann rückte auf seinem quietschenden Gästebett an die Wand, um sich anzulehnen, und fuhr fort:
»Sorge Dich nicht um Deine Mutter. Ich weiß, dass das schlechte Gewissen an Dir nagt. Doch ihr Sturms seid stark. Sie wird dankbar sein, dass Du bei Deinem Bruder bist. Du hast ihr nichts verraten, oder? Sonst hätte sie Dich niemals ziehen lassen. So aber glaubt sie, dass Du in Sicherheit bist. Mach keine Alleingänge, hörst Du? Und versuche, sie nicht zu enttäuschen. Sie vertraut Dir.
Vergiss nicht, was ich Dir gesagt habe. Ich möchte Dich zu nichts drängen und schon gar nicht erwarte ich etwas. Ich behaupte nicht, dass Du die Angst besiegst, wenn Du Dich ihr stellst. Aber Du kannst ihr wenigstens ins Auge sehen.
In überaus liebevoller Freundschaft
Colin«
Tillmann gab mir den Brief zurück, der für meinen Geschmack viel zu viele Anweisungen und Befehle enthielt, und musterte mich wissbegierig.
»Ihr habt also Schluss gemacht?«
»Schluss gemacht! Mit jemand wie Colin macht man nicht Schluss - das ... das gibt es bei ihm nicht und bei mir erst recht nicht. Wer hat diese Redewendung überhaupt erfunden? Schluss machen.« Ich schnaubte verächtlich. »Als ob man das so nebenbei entscheiden könnte. Ach, heute mach ich mal Schluss. Was für eine gequirlte Kacke.«
»Okay, ihr habt Schluss gemacht. Oder du hast es? Na, muss ja nicht für immer sein. Ich würd mich allerdings mit dem Versöhnen beeilen, denn du wirst im Gegensatz zu Colin älter, und spätestens wenn du dreißig bist ...«
»Tillmann, es reicht«, stoppte ich seine beglückenden Schlussfolgerungen. »Ich bringe dich jetzt erst einmal auf den aktuellen Stand, bevor wir uns meinem Liebesieben widmen.« Und das tat ich, obwohl ich müde von unserer
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