Scherbenparadies
merklich den Kopf und sagte dann erstaunlich sanft: »Das stimmt nicht, Sandra. Und du weißt, dass ich es weiß. Ich hab nur keine Ahnung, was dich derart belastet. An den Noten liegt es nicht. Die sind gut. Wenn du das Niveau halten kannst, steht dem Übertritt auf die FOS nichts im Weg. Liebeskummer vielleicht…?«
Sandra musste lachen. Richtig lachen und das tat gut. »Ganz bestimmt nicht.« Der Gedanke, sich in all dem Chaos auch noch unglücklich zu verlieben… nee, bestimmt nicht, diesen Luxus würde sie sich mit Sicherheit nicht leisten. »Geben Sie auf. Bei mir ist wirklich alles im grünen Bereich.« Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln, während Joswig sie weiter mit seinem Blick festhielt, der ihre Heiterkeit Lügen strafte. Sie wich ihm aus, griff zum Kaffeebecher, studierte die feinen Poren des Milchschaums, nur um Joswigs Augen nicht noch einmal zu begegnen.
10
Eigentlich musste sie für die Mathearbeit lernen. Doch bis Sandra am nächsten Tag Vanessa abgeholt und den Rest Nudeln mit Tomatensoße vom Vorabend aufgewärmt und dann mit ihrer kleinen Schwester Hausaufgaben gemacht hatte, war es höchste Zeit, sich auf den Weg zum Vorstellungsgespräch für die Putzstelle zu machen. Mathe musste also warten und Vanessa zu Ayshe gebracht werden.
»Ich geh allein!« Ein trotziger Blick traf Sandra. »Ich bin doch kein Baby.«
Es war nicht das erste Mal, dass Vanessa allein zu Ayshe ging. Sandra konnte sie nicht ständig behüten. Ayshe wohnte im selben Haus und die Gefahr, dass Vanessa sich auf dem Weg zu ihr verlief, weil sie einer streunenden Katze folgte, tendierte gegen null. Also durfte Vanessa alleine zum Lift gehen und nach oben zu ihrer Freundin fahren.
Ein Blick aus dem Fenster bestätigte Sandra, dass Mistwetter herrschte. Feiner Nieselregen fiel unaufhörlich, eine graue Wolkendecke schluckte das Tageslicht. Die Aussicht auf einen Fußmarsch war ebenso wenig verlockend wie eine Tour mit Lauras klapprigem Rad. Am liebsten wäre sie zu Hause geblieben und hätte Mathe gelernt.
Verdammter Mist. Weshalb konnte sie keine normale Mutter haben? Eine, die arbeitete und nicht soff und eine Klassenfahrt bezahlen konnte!
Wütend riss Sandra die Jacke vom Garderobenhaken, schlang den Schal um den Hals, stopfte die Haare unter eine Strickmütze und schlüpfte in Lauras Stiefel. Wenn sie mit nach Berlin wollte, musste sie das eben selbst hinkriegen, also Abmarsch.
Mit Lauras altem Rad fuhr sie nach Altperlach. Der feine Regen setzte sich in die Klamotten. Als Sandra eine Viertelstunde später am Reihenmittelhaus der Familie Ihrig klingelte, waren Jacke und Hose ziemlich feucht und nicht nur Sandras Hände fühlten sich eiskalt an.
Die Frau, die öffnete, war etwa Mitte dreißig und hatte etwas Strenges und Unnachgiebiges im Blick. Aufmerksam taxierte sie Sandra, die sich bei der Überlegung ertappte, ob Sabine Ihrig möglicherweise in der U-Bahn Fahrkarten kontrollierte. Vielleicht war sie auch Kaufhausdetektivin oder Aufseherin im Gefängnis, so streng, wie sie guckte.
Sandra stellte sich vor.
»Sie sind das?« Die Verblüffung stand der Frau ins Gesicht geschrieben.
Okay, der Job schien doch nicht so sicher zu sein, wie sie geglaubt hatte. »Ja. Ich komme wegen der Putzstelle«, sagte Sandra mit fester Stimme.
»Wie alt bist du denn?« Problemlos schaffte Sabine Ihrig den Wechsel zum Du.
»Im Juni werde ich neunzehn. Keine Sorge, ich kann putzen. Ich verdiene mir damit das Geld für den Führerschein.« So langsam wurde sie richtig gut im Lügen.
Einen Augenblick zögerte die Frau noch, dann ließ sie Sandra herein. »Na, wir können es ja mal probieren.«
Der Flur war klein. Linkerhand befand sich die Küche, in der es nicht wesentlich ordentlicher aussah als bei Sandra daheim. Am Küchentisch saß ein etwa zweijähriger Junge, dessen Gesicht mit Schokopudding verschmiert war. »Wenn Sie wollen, fange ich gleich an.« Dieses Angebot war eine spontane Eingebung. So wie es aussah, benötigten die Ihrigs dringend eine Putzfrau.
»Das ist eine gute Idee.« Die Frau konnte tatsächlich lächeln. »Also, wie schon gesagt, wir machen das schwarz. Zehn Euro pro Stunde. Einverstanden?«
Nur zehn Euro.
»Oder bekommst du bei deinen anderen Putzstellen etwa mehr?« Es klang derart ungläubig, dass Sandra sofort einlenkte. Schließlich wusste sie nicht mit Sicherheit, ob die zwölf Euro Stundenlohn, von denen sie gehört hatte, normal waren. Besser, sie hätte sich vorher
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