Scherbenparadies
Pat, vor Janina und Sami, vor Charlie, Marlene und Tina zu stehen, vor all denen, die ihre hämischen Kommentare bei Facebook hinterlassen hatten, wurde ihr ganz flau. Das ging nicht. Ihre Blicke, ihr Grinsen, ihr Getuschel… das würde sie nicht ertragen. Doch sie musste das Referat halten. Wie sollte sie Joswig denn erklären, dass sie das nicht konnte? Denk an die FOS, denk daran, dass du hier rauswillst, nimm dich zusammen! Beachte sie nicht. Such dir einen Punkt an der Wand und guck über ihre Köpfe hinweg. Stell dir vor, sie sind nicht da, das Zimmer ist leer und du stehst ganz allein darin.
Der Gong erklang und kurz darauf betrat Joswig das Klassenzimmer. Stühle wurden gerutscht, der Lärm ebbte ab. Nur Pat und Maja tuschelten noch, als Joswig sich setzte, allen einen guten Morgen wünschte und dann Sandra nach vorne ans Pult rief.
Was wollte er? Er hatte doch hoffentlich nicht das Foto gesehen! Die aufsteigende Übelkeit schluckte sie tapfer wieder runter. Die konnte sie jetzt wirklich nicht brauchen. Zögernd blieb sie vor Joswig stehen, das Referat in der Hand.
»Wie geht’s dir? Fit für das Referat?«
Sie nickte. Er lächelte und… hatte er ihr jetzt tatsächlich zugezwinkert oder hatte sie sich das eingebildet?
»Ich bin schon gespannt auf den Bogen, den du offenbar schlagen willst, zwischen einer über hundert Jahre alten Novelle und heutiger Fantasy.« Er lehnte sich zurück und Sandra wandte sich der Klasse zu. Die Blätter in ihrer Hand zitterten ein wenig. Sie fing Samis Blick auf, dann den von Maja und atmete durch.
Ich werde es euch allen zeigen. Ihr bringt mich nicht von meinem Ziel ab. Ich werde jetzt mein Referat halten und ich werde eine Eins dafür bekommen und dafür werdet ihr mich noch mehr hassen. Es ist mir egal. So was von scheißegal. Wieder flackerte dieser brennende Schmerz hinter ihrem Brustbein auf. Ignoriere sie. Sie sind nicht da. Du bist ganz allein in diesem Raum.
Hinten an der Wand hing eine große Weltkarte. Sandra fixierte Island. Dorthin würde sie irgendwann mal reisen. Im Winter, wenn man die Polarlichter sehen konnte. Eines Tages würde sie dort am Rande eines Lavafeldes stehen, zwischen Geysiren und Quellen, und würde den Entladungen des Sonnenwindes zusehen, wenn dieser auf die Erdatmosphäre traf und schillernde Erscheinungen an den Himmel malte. Genau. Das war eines ihrer Ziele.
»Der Schimmelreiter. So heißt eine Novelle von Theodor Storm.« Mit diesen Worten begann sie. Zwanzig Minuten dauerte das Referat und Island hörte ihr aufmerksam zu. Als sie geendet hatte, stand Joswig auf. »Klasse, Sandra. Das war echt ein erstklassiges Referat.« Seine Worte gingen in einem widerwilligen Gemurmel unter. Maja meldete sich.
»Was gibt es?«
»Ich glaube, unser Star muss dringend auf Toilette.«
Die Klasse brach in wieherndes Gelächter aus. Sandra starrte auf Island, ging langsam zu ihrem Platz zurück und versuchte, sich vorzustellen, wie es wäre, unsichtbar zu sein.
Joswig trat an Majas Bank. »Habe ich irgendwas verpasst?«
»Nö.« Sie setzte ihren Unschuldsblick auf.
Im selben Moment begann die Sirene loszuheulen. Unruhe machte sich breit. Beschwichtigend hob Joswig die Arme. »Kein Grund zur Panik. Heute ist Probealarm.«
Sandra war unendlich erleichtert über diesen abrupten Themenwechsel. Als Letzte verließ sie das Klassenzimmer und stellte sich im Hof abseits. Alina fehlte noch immer. Sie hatte eine SMS geschickt. Zahnschmerzen! Morgen bin ich wieder da. Hoffe, du hast dein dickes Fell an. Sandra simste zurück. Das extradicke. Gute Besserung!
Irgendwie überstand Sandra die restlichen fünf Schulstunden und war froh, als sie endlich den Heimweg antreten konnte.
So ging es nicht weiter. Dieser tägliche Kampf ums Geld, ums Essen… der Dreck in der Wohnung… die Verantwortung für Vanessa… die zusammenschrumpfende Zeit für Hausaufgaben und jetzt auch noch diese Mobbingattacke. Sie fühlte sich so müde. Sie schaffte das nicht. Laura musste endlich wieder heimkommen. Sie musste ihre Mutter finden und noch einmal mit ihr reden.
Deshalb schickte Sandra Vanessa nach der Schule gleich zu Ayshe und ging dann ins Einkaufszentrum. Es war ihr einziger Anhaltspunkt.
Ihr leerer Magen hatte sich heute den ganzen Tag über ruhig verhalten, als habe er resigniert. Doch als sie jetzt Etage um Etage auf der Suche nach ihrer Mutter durchstreifte und von allen Seiten Essensdüfte auf sie einströmten, begann er zu rumoren. Sie suchte die Toilette auf
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