Scherbenparadies
hochhackigen Stiefeln und ein tief ausgeschnittenes Shirt unter der offenen Steppjacke. Auch sie hatte in den letzten Wochen abgenommen und wirkte mehr denn je wie ein zerrupfter, aus dem Nest gefallener Vogel. Sie passte damit gut zu Ulf, der ebenso dürr und vom Alkohol gezeichnet war wie sie.… egal, was du machst… kaufe mir jetzt ’nen Wodka. Ihre Stimme klang verwaschen. Ulf schubste sie. Drecksfotze! Laura brüllte Scheißkerl, versetzte Ulf ebenfalls einen Stoß, verlor dabei das Gleichgewicht und wäre beinahe von der Bank gefallen. Einige der Umstehenden lachten. Sandra wollte nur noch weg. Rasch drehte sie sich um.
»Sandra?«
Sie erstarrte zur Salzsäule.
»Sandra?«
Laura hatte sie entdeckt!
»Mein Schatz.«
Eine Frau aus der Menge, die das Spektakel neugierig beobachtete, starrte Sandra erwartungsvoll an. Gleich würde sie fragen, ob sie diese besoffene Frau kannte. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. In Panik lief sie los. Bis zur Rolltreppe und hinauf in die obere Einkaufsebene. Erst dort verlangsamte sie ihr Tempo.
Sie hatte gerade ihre Mutter verleugnet.
Plötzlich standen ihr die Tränen in den Augen. Ihr Herz klopfte rasend, etwas nahm ihr den Atem. Dennoch ging sie weiter. Unerbittlich. Schritt für Schritt. Eine Entscheidung war gefallen, das spürte sie. Sie wusste nur noch nicht, welche. Starr geradeaus blickend setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Menschen wichen ihr aus. Sie nahm sie kaum wahr, bis jemand sie an der Schulter berührte. »Sandra. Um Gottes willen, was ist denn los mit dir?«
Sie blieb stehen, starrte den Mann an, bis sie ihn erkannte. Joswig. Shit!
»Ist etwas passiert?«
Obwohl sich ihr Hals ganz steif anfühlte, schaffte sie es, den Kopf zu schütteln.
»Sorry, wenn ich dir widerspreche: Du lügst.« Ernst sah er sie an mit seinen honigbraunen Augen.
Langsam kam sie zu sich. Sie grinste. »Sorry. Ich hab gar nichts gesagt.«
Er erwiderte das Lächeln. »Ich wollte mir gerade einen Cappuccino spendieren. Magst du auch einen?«
Anscheinend war er shoppen gewesen. Er trug zwei Tüten. »Dürfen Lehrer das? Ich meine, Schülerinnen einladen?« Kaum hatte sie das gesagt, wurde sie rot, denn wer sagte denn, dass das eine Einladung gewesen war?
Er zuckte mit den Schultern. »Das sollte kein Problem sein. Also, magst du?«
Erst jetzt bemerkte Sandra, dass sie direkt vor einem Coffeeshop standen, und zu ihrem Entsetzen entdeckte sie weiter hinten, bei den Rolltreppen, Laura, die sich langsam durch die Menschenmenge in ihre Richtung schob. Noch hatte sie Sandra nicht gesehen. Ihr Fluchtimpuls jagte wieder von null auf hundert. »Ja klar. Gerne.« Noch vor Joswig betrat sie das kleine Lokal und suchte einen Platz ganz hinten, mit dem Rücken zum Eingang. Sicherheitshalber. Obwohl Laura garantiert nicht auf der Suche nach Kaffee war. Im selben Augenblick fühlte sie sich schäbig und schuldig. Sie verleugnete ihre Mutter und versteckte sich sogar vor ihr. Das war an Gemeinheit nicht zu übertreffen. Laura war krank. Sie brauchte Hilfe, sonst würde sie eines Tages als obdachlose Pennerin unter irgendeiner Isarbrücke verrecken. Aber wie sollte sie es schaffen, ihre Mutter zu einem Entzug zu überreden? Noch nie hatte sie sich so verlassen gefühlt. Mühsam unterdrückte sie die Tränen.
Die Kellnerin kam an den Tisch. Joswig bestellte Cappuccino und Schokocroissants. Und dann musterte er Sandra wieder mit diesem Blick, den sie schon vom Vormittag kannte. Er hatte schöne Augen. Mit ihnen schien er zu sagen, ich sehe doch, dass mit dir etwas nicht stimmt. Mir kannst du vertrauen. Wenn ich irgendwie helfen kann, werde ich das tun.
Vielleicht ging das ja, vielleicht konnte sie ihm sagen, was los war? Irgendwie war er nicht so wie andere Lehrer. Wenn sie ihm erzählte… Sie spürte förmlich, wie bei diesem Gedanken die Last etwas leichter wurde, die sie jeden Tag ein wenig mehr in einen bodenlosen Sumpf hinunterdrückte. Noch immer hielt sie seinem Blick stand. Bemerkte Wärme darin und noch etwas anderes, das sie irritierte. Doch was konnte Joswig schon tun? Er war Lehrer. Es gab Vorschriften. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als das Jugendamt zu informieren. Und das konnte sie schließlich selbst. Wenn es nicht mehr anders ging. Erst dann. Keinen Tag früher. Sie wich seinem Blick aus, starrte auf ihre Hände. »Ich war vorher nur ganz in Gedanken. Bei mir ist alles in Ordnung. Echt.«
Kaffee und Croissants wurden serviert. Joswig schüttelte kaum
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