Scherbenparadies
einer halben Stunde bin ich wieder da.«
»Lüge«, zischte Sandra. »Das ist alles, was du kannst. Lügen und abhauen. Du lässt uns im Stich. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie wir hier leben? Wie wir hier klarkommen? Ich geh putzen, um mir das Geld für die Klassenfahrt zu verdienen. Ich geh auf den Flohmarkt und verscherbel, was wir nicht unbedingt brauchen, um ein paar Lebensmittel einkaufen zu können, ich renn zur Münchner Tafel und krieg nichts, weil du deinen Arsch nicht hochbekommst, und dann klaube ich auch noch Essen aus dem Abfallcontainer, damit Vanessa und ich nicht verhungern. Und du spazierst hier herein und sagst, du gehst einkaufen! Und kommst gleich wieder! Für wie doof hältst du mich?« Erschöpft lehnte Sandra sich an die Kommode im Flur.
Laura war wie festgenagelt stehen geblieben, doch nun kam Bewegung in sie. Energisch holte sie eine pinkfarbene Baskenmütze aus der Jackentasche und zog sie über die struppigen Haare.
»Du bist so schrecklich patent. Von mir hast du das nicht.«
»Ich bin was?«
»Praktisch, tüchtig, zupackend. Nenn es, wie du es willst.«
An Sandra vorbei schob Laura sich zur Wohnungstür. »Ich gehe jetzt einkaufen und bin gleich wieder da. Kapiert?«
»Auf der Flucht bist du!«, schrie Sandra. »Das sollte dir langsam klar werden. Du rennst vor deinen Problemen weg. Aber das funktioniert nicht! Und ertränken klappt auch nicht, und wenn du noch so viel Alkohol in dich reinkippst. Denn deine Scheißprobleme kleben an dir. Du wirst sie nur los, wenn du sie dir mal anguckst und überlegst, was du dagegen machen kannst.«
Ein giftiges Funkeln erschien in Lauras Augen. »Sag du mir nicht, was ich tun soll.« Sie zog die Tür auf. Eine Sekunde später fiel sie donnernd hinter ihr ins Schloss.
Gut, dass Vanessa oben bei Ayshe ist, dachte Sandra noch, bevor sie sich heulend aufs Sofa schmiss.
Als sie sich einigermaßen ausgeweint hatte, fühlte sie sich etwas besser. Sie versuchte zu lernen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Sie stellte sich vor, wie Alina die schmuddelige Wohnung, an die sie sich inzwischen einigermaßen gewöhnt hatte, sehen würde.
Verwahrlost, dachte Sandra beschämt. Das ist die passende Beschreibung. Wir verwahrlosen hier. Ich kann niemanden reinlassen, solange es hier so aussieht.
Eine saubere Wohnung oder Berlin? Das war nun die Frage.
Was für eine Frage denn? Schon vergessen?, fragte eine sarkastische Stimme in ihrem Kopf. Berlin kannst du vergessen, in die Tonne treten, dir abschminken. Wer passt auf Vanessa auf?
Ich kann Ayshes Mutter fragen.
Vergiss es!
Ich frage Ayshes Mutter!
Berlin und saubere Wohnung. In dieser Reihenfolge. Wenn sie das Geld für die Klassenfahrt erst mal zusammenhatte, konnte sie weiter putzen gehen. Was sie damit verdiente, würde sie in Putzmittel und einen Staubsauger investieren. Den konnte sie für ein paar Euro auf dem Flohmarkt kaufen. Ein paar Wochen im Dreck ließen sich aushalten. Du bist so schrecklich patent! Genau, dachte Sandra. Nur schrecklich ist das falsche Adjektiv. Und von dir habe ich das wirklich nicht.
Sie zog das Handy aus der Tasche und schickte Alina eine SMS. Sorry. Wie wäre es mit einem DVD-Abend nach der Englischschulaufgabe?
Sandra steckte das Handy wieder ein und sah aus dem Fenster. Grauer Nieselregen. Als die halbe Stunde um war, lauschte sie auf Schritte im Flur. Idiotisch. Laura würde nicht zurückkommen. Hatte sie das auch nur eine Sekunde geglaubt?
Die Englischaufgabe stand an. Sandra ging ins Kinderzimmer, setzte sich an den winzigen Tisch und versuchte erneut, sich auf Englisch zu konzentrieren. Es war zwecklos. Plötzlich überrollte sie eine nie gekannte Wut. Alina hatte ein eigenes Zimmer. Maja hatte ein eigenes Zimmer. Alle hatten eines. Nur sie nicht. Sie teilte sich einen winzigen Raum mit ihrer kleinen Schwester, während das Zimmer nebenan langsam Spinnweben ansetzte. Sie sprang auf, rannte in die Küche, riss die Rolle mit Müllbeuteln aus der Schublade und stürmte ins Schlafzimmer. Zehn Minuten später hatte sie Lauras Krempel hineingestopft. Sie schleppte die vollen Säcke und das Bettzeug in den Kellerverschlag. Nur den PC ließ sie stehen. Den brauchte sie.
Dann räumte sie ihre Sachen in Schrank und Kommode. Mit Tesa hängte sie die Plakate von Unheilig auf, ihrer Lieblingsband. Zum Schluss baute sie ihr altes Bett auseinander und schleppte die Teile ebenfalls in den Keller. Nach drei Stunden Arbeit war Sandra verschwitzt, dreckig und fix und
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