Scherbenparadies
Mann! Schon wieder drifteten ihre Gedanken ab! Wollte sie sich wirklich ein weiteres Problem aufhalsen? Nee. Wirklich nicht! »Never!«, sagte sie in die Dunkelheit.
Sie hatte einen Supermarkt in der Nähe des Klinikums ausgewählt. Möglichst weit weg von daheim, falls irgendwer sie erkannte… Auf dem Weg dorthin hatte sie zweimal das Gefühl, jemand ginge ihr nach. Leichte, tappende Schritte. Doch als sie sich umdrehte, sah sie nur eine alte Frau mit Stock und beim zweiten Mal einen Radfahrer, der auf dem Gehweg fuhr.
Wurde sie jetzt langsam paranoid?
Kurze Zeit später hatte sie ihr Ziel erreicht. Der Hof des Supermarkts war frei zugänglich. Kein Zaun. Kein Tor. Irgendwas rührte sich dort. Jemand huschte im Halbdunkel zwischen den Containern herum. Ein Gleichgesinnter? Sandra blieb im Schutz einer kahlen Hecke stehen. Doch der Mann, den sie einen Moment später entdeckte, trug einen grünen Kittel mit dem Logo des Discounters und in der Hand eine Palette Joghurts. Der Deckel des Containers quietschte, als er ihn öffnete und sich schwungvoll seiner Last entledigte. Perfekt. Joghurt hatten sie schon ewig nicht mehr gegessen. Sandra wartete, bis der Mann durch die Hintertür im Markt verschwand, dann sah sie sich um. Niemand zu sehen. Der Deckel des Containers stand noch offen. Sie zog die Taschenlampe hervor und leuchtete hinein. Obenauf lagen die Joghurts. Sandra griff vier Becher. Im Licht der Taschenlampe las sie den Aufdruck. Zwei Tage über dem Mindesthaltbarkeitsdatum. Das musste ja nicht bedeuten, dass sie verdorben waren. Mindestens haltbar hieß das ja und nicht längstens. Sie steckte die Becher in eine Plastiktüte. Dann suchte sie weiter. Nach zehn Minuten hatte sie eine Rolle Kekse, die noch gut aussah, einen überreifen Camembert, eine Packung Vollkornbrot, Räucherlachs in Folie eingeschweißt und sogar eine Schachtel Schaumküsse erbeutet. Vanessa würde jubeln. Schaumküsse!
18
Am Mittwoch rief Sabine Ihrig an. Sie hatte sich einen Magen-Darm-Virus eingefangen. Der Putztermin am Donnerstag fiel aus. Sandra sollte nächste Woche kommen. Verdammter Mist! Nicht nur, dass sie nun nichts dazuverdiente, sie musste auch noch eine Woche länger auf das Geld warten, das ihr schon zustand.
Das Mobbing ging weiter: Getuschel und blöde Witze, ab und an ein Zettel. Bitch. Pissnelke. Auf Facebook loggte sie sich nicht mehr ein, aus Angst davor, was dort über sie geschrieben wurde. Sandra versuchte, ihre Mitschüler, so gut es ging, zu ignorieren. Jeden Tag wappnete sie sich gegen neue Gemeinheiten. Doch nach und nach höhlten diese Aktionen sie aus. Sie wurde immer fahriger, war schlecht gelaunt und fühlte sich jeden Tag ein Stück elender.
Als sie an diesem Morgen ins Klassenzimmer kam, fand sie eine Pampers auf ihrem Platz. Sie nahm die Windel, ging, von Gekicher begleitet, zum Papierkorb und stopfte sie hinein. Erste Stunde Mathe. Lindner hatte tatsächlich schon die Mathearbeit korrigiert. Sandras Einschätzung war realistisch gewesen. Eine Fünf.
Eigentlich war es gar nicht so schlecht, die Welt wie durch Milchglas wahrzunehmen. Alles blieb auf Distanz. Nichts tat richtig weh. Ein anhaltend dumpfer Schmerz. Der ließ sich irgendwie aushalten. Eine Fünf in Mathe. Wenn sie in Deutsch und Englisch eine Zwei schaffte, reichte das immer noch für den Übertritt auf die FOS.
Joswig fing Sandra während der Pause im Hof ab und fragte, weshalb sie sich am Dienstag keine Befreiung geholt, sondern einfach so den Unterricht verlassen habe. »Mir war schlecht«, log Sandra. »Ich habe einfach nicht daran gedacht.«
»Einmal kann ich dir das durchgehen lassen. Ein zweites Mal nicht. Und deine Mutter ist nicht zur Sprechstunde gekommen. Weshalb?«
Tja. Überraschung!, dachte Sandra. Joswig bat sie nochmals, ihre Mutter zu ihm zu schicken. Wieder sah er sie mit diesem besorgten Blick an. Was bedrückt dich derart, dass du nur noch ein Schatten bist? Ich will dir helfen.
Er trug Jeans und eine offene Lederjacke über einem Flanellhemd und wirkte so, als ob er in jeder Lebenslage genau wusste, was zu tun war. Sicher toll für ihn. Aber er sollte sie endlich in Ruhe lassen.
»Das wird nicht klappen. Sie macht einen Kurs, von der Arbeitsagentur aus. Da kann sie nicht einfach fehlen.«
»Sie kann mich anrufen, dann machen wir einen Termin am Abend.«
Sandra entdeckte Maja. Sie stand keine zwei Meter entfernt und hielt das Handy ans Ohr. Doch Sandra wusste, dass sie nicht telefonierte. Allein der
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