Scherbenparadies
fertig. Aber sie hatte ein eigenes Zimmer. Und Vanessa ebenfalls. Wenn Laura tatsächlich mal hier schlafen wollte, konnte sie das auf der Couch tun.
Kurz nach sechs kam Vanessa von Ayshe. Ihr Mund war mit Schokolade verschmiert und ihre Augen strahlten.
»Na, Maus. Hast du einen schönen Nachmittag gehabt?«
Vanessa nickte. »Ich hab eine Katze aus Knete gemacht.« Dabei fiel ihr Blick durch die geöffnete Tür ins Schlafzimmer. Ihre Augen wurden ganz groß vor Schreck.
Sandra wurde schwindelig. Verdammt! Warum hatte sie nicht dran gedacht, wie diese Umräumaktion auf Vanessa wirken musste?
»Mama ist weg?« Die Worte waren kaum zu verstehen.
»Nein. Ist sie nicht. Sie… Sie…« Sandra fiel keine Ausrede ein. Vor ihrer kleinen Schwester ging sie in die Hocke und nahm sie in den Arm. »Mama geht es nicht so gut, deshalb wohnt sie bei Ulf. Trotzdem hat sie dich lieb. Ganz doll. Glaub mir.«
»Hat sie nicht.« Die Stimme klang erstickt an Sandras Hals. »Ich hasse sie!« Vanessa riss sich los. »Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich will sie nie wieder sehen!« Sie rannte ins Kinderzimmer, warf sich aufs Bett und begann, hemmungslos zu weinen.
Sandra folgte ihr. Vanessa hatte den Kopf tief ins Kissen gegraben. Ein ersticktes Schluchzen drang hervor. Ihr kleiner Körper zuckte.
Sandra kniete sich auf den Boden und begann, Vanessa übers Haar zu streicheln. »Ich hab dich lieb. Mehr als man einen Menschen überhaupt lieb haben kann. Ich kümmere mich um dich und bin immer für dich da. Ich lass dich nicht allein. Nie.«
19
Am nächsten Tag hatte Vanessa sich beruhigt, war allerdings still und in sich gekehrt. Weder beim Frühstück sprach sie über Laura noch auf dem Schulweg.
Als Sandra sich der Joachim-Ringelnatz-Realschule näherte, spürte sie die Angst in jeder Pore sitzen. Ihr war kalt. Was würde sie heute erwarten? Gegen welche Gemeinheit musste sie sich rüsten? Ihre Schritte verlangsamten sich unwillkürlich.
Einzeln oder in Gruppen strömten die Schüler der Realschule zu. Es wurde gequatscht und gelacht, getuschelt und gekichert, Musik gehört und telefoniert und einige qualmten schnell noch eine Zigarette. All diese Eindrücke nahm Sandra kaum wahr. Wieder fühlte sie sich wie in einer Blase, die sie von allen trennte.
Jetzt nicht durch diese Tür zu gehen… Der Gedanke war verlockend. Ein Tag Auszeit von Maja und Pat. Ein Tag ohne fiese Bemerkungen und ohne Spott. Sich daheim ins Bett legen, die Ohren zustöpseln und nur Musik hören, bis die Gedanken leicht und frei wurden, ein wenig träumen… Sie blieb am Straßenrand stehen und starrte auf das Schulgebäude. Da jetzt nicht hineinzumüssen… Doch das ging nicht. Wenn sie so anfing… wo würde das enden? Ziemlich sicher damit, dass sie die Prüfungen nicht schaffte, und dann konnte sie sich alles abschminken, alle Träume, alle Ziele… keine FOS, keine gute Ausbildung, kein neues Leben… Eine schlechte Note in Mathe hatte sie schon. Mehr konnte sie sich nicht leisten. Sieben Monate noch.
Sandra marschierte los. Ich gehe jetzt da rein. Ich halte das durch. Ich höre nicht hin, denke an Island, an Polarlichter. Eines Tages werde ich sie sehen. Ich lasse mich nicht kirre machen, sieben Monate und ich habe es geschafft.
Diese Gedanken wiederholte sie wie ein Mantra, während sie die Schule betrat und durch die Aula zum Klassenzimmer ging.
Als sie eintrat, herrschte der übliche Geräuschpegel. Sami und Charlie saßen auf dem Fensterbrett über ein A4-Blatt gebeugt. Lernten die etwa? Es geschahen noch Wunder. Sami grinste anzüglich, als er Sandra sah.
Maja und Pat steckten die Köpfe zusammen, wie immer. Marlene simste. Auch vor ihr lag ein Bogen Papier und Janina blätterte in einer Zeitschrift, darunter lugte ebenfalls ein A4-Bogen hervor. Im Sommer hatte Janina noch Bravo gelesen, jetzt war es die Cosmopolitan .
Auf den ersten Blick schien alles normal zu sein. Und doch… etwas lag in der Luft. Sandra ging an ihren Platz. Alina ließ einen Zettel verschwinden und starrte ins Englischbuch, als Sandra sich neben sie setzte. Sie hatte auf die SMS nicht geantwortet. Was wohl bedeutete, dass sie noch sauer war. Sandra fehlte jetzt irgendwie jede Kraft für ein versöhnliches Wort. Was für Blätter waren das, die anscheinend alle hatten? Nur sie nicht.
»Hi. Alina.«
Ein giftiger Blick war die Antwort. Er traf Sandra mitten ins Herz. Sie zog die Unterlippe unter die Schneidezähne und biss darauf, um dieses Bleigefühl von Kummer,
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