Scherbenparadies
tatsächlich ganz bei Ulf wohnen würde. Aber verliebt war sie nicht in Joswig. Ganz sicher nicht.
»Hallo Sandra? Raumschiff an Erde. Wir sind da.«
Tatsächlich. Sie standen vor Starbucks.
Alina bestellte einen großen Milchkaffee. Sandra sagte, sie habe Magenschmerzen und wolle nichts trinken. Vermutlich kamen die vom Stress mit Maja und Pat.
»Okay, dann spendiere ich dir einen Tee. Ist gut für den Magen. Einverstanden?«
»Ja. Gerne. Danke.« Sandra war Alina dankbar und fühlte sich trotzdem schäbig. Noch immer hatte Alina keine Ahnung, was los war.
Sie holten die Getränke und quatschten dann ausgiebig. Alina war genau wie Sandra davon überzeugt, dass Maja und Pat hinter dem Mobbing steckten. Sie waren einfach zu feige, dazu zu stehen. »Ich werde mal meine Mutter fragen, wie du dich da am besten verhältst«, schlug Alina vor.
»Vermutlich ist Ignorieren die beste Taktik. Sie darauf anzusprechen, bringt nichts. Das stachelt sie erst recht an. Hast du ja gerade gesehen. Die sind richtig zu Höchstform aufgelaufen… und alle haben mitgemacht. Was haben die nur gegen mich?« Sie ließ den Kopf in die Hände sinken und fühlte sich so kraftlos wie ein Blatt Papier.
»Nix. Niemand hat was gegen dich. Das ist der Herdentrieb. Lauter blöde Schafe und ein paar dumme Böcke. Mäh! Bäh!« Alina hob das Kinn und blökte herzzerreißend. »Määääh!«
»Bähh!«, fiel Sandra ein. Doch das Lachen blieb irgendwo auf halbem Weg stecken, wollte nicht zum befreienden Gelächter werden.
Kurz nach eins musste Sandra los, Vanessa abholen, denn Laura besuchte angeblich noch immer diesen Kurs. Als sie Alina zum Abschied umarmte, fühlte sie sich schäbig und hinterhältig. Alina war ihre Freundin. Ihre einzige Freundin. Sie hatte ihr heute die Sachen hinterhergetragen, war ihr nachgelaufen und hatte sie… hatte sie… Diesen Gedanken konnte sie nicht zu Ende denken. Für einen Augenblick glaubte sie, den kühlen Luftzug der U-Bahn wieder zu spüren.
Wieder einmal sorgte Sandra dafür, dass Vanessa bei Ayshe etwas zu essen bekam, und überlegte dann fieberhaft, woher sie Geld für Lebensmittel nehmen sollte. Laura war nicht erreichbar. Allerdings war sie überfällig. In den nächsten Tagen würde sie sicher kommen, den Kühlschrank füllen und Geld bringen. Aber bis dahin… Sollte sie zu den Ihrigs fahren und das Putzgeld einfordern, obwohl ausgemacht war, dass sie es beim nächsten Mal bekam?
Vielleicht gab es in München noch andere Verteilstationen für kostenlose Lebensmittel? Eine, für die man keinen Ausweis brauchte. Sandra googelte das und stieß auf eine Website, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Die Site beschäftigte sich mit dem Thema Containern.
Was da stand, war einfach unglaublich. Supermärkte warfen genießbare Lebensmittel weg, weil die Verpackung beschädigt oder das Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht war oder weil die Produktreihe aussortiert wurde. Oder einfach nur, weil Obst und Gemüse nicht mehr knackig aussahen. Das war doch total verrückt. Weshalb verschenkte man den Kram nicht an Menschen, die ihn brauchen konnten? Genau diese Frage schienen sich zunehmend mehr Leute zu stellen. Inzwischen gab es Gruppen, die sich zum Containern trafen. Sie suchten nach Ladenschluss in den Hinterhöfen der Märkte genießbare Lebensmittel aus den Abfallcontainern. Teils aus finanziellen Gründen, teils aus weltanschaulicher Überzeugung, diese Verschwendung nicht hinnehmen zu wollen. Super Idee!, dachte Sandra. Das konnte sie auch machen. Allein. Supermärkte gab es einige im Umkreis. Nur, bis nach Ladenschluss konnte sie nicht warten. Jedenfalls nicht heute. Vanessa würde um sieben von Ayshe kommen.
Kurz nach sechs packte Sandra zwei Plastiktüten in den Rucksack, suchte die Taschenlampe und fand sie in der Flurkommode. Damit war die Ausrüstung perfekt. Bis auf Gummihandschuhe. Sie hatte keine und machte sich darauf gefasst, schlimmstenfalls in gammeliges Obst und Gemüse zu fassen. Es gab Schlimmeres.
Inzwischen war es dunkel geworden und noch kälter. Der Matsch auf den Gehwegen war gefroren und glatt. Da Sandra Lauras Stiefel angezogen hatte, tendierte die Gefahr auszurutschen gegen null. Wieder musste sie an Joswig denken. Nils. Und gleich fühlte sie sich ein wenig leichter, froher, beinahe glücklich. Nils. So hieß er. Ich bin Nils Joswig. Euer neuer Klassenlehrer. So hatte er sich vorgestellt. Nils. Das klang so nett. So jungenhaft. Und so viel älter war er eigentlich gar nicht. Oh
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