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Scherbenparadies

Scherbenparadies

Titel: Scherbenparadies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Loehnig
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Trauer oder wie immer man das nennen wollte nicht schon wieder hochkommen zu lassen. Währenddessen raffte Alina ihre Sachen zusammen, stopfte sie in den Rucksack und stand auf.
    Was sollte das denn werden?
    »Freundinnen! Ja?«, giftete sie und Sandra zuckte zusammen.
    »Freundinnen vertrauen einander und erzählen sich alles. Okay. Ich hab’s kapiert.«
    Die unsichtbare Hand legte sich um Sandras Kehle. Sie bekam kaum noch Luft. In den Ohren rauschte das Blut. Was war hier los? »Was meinst du denn? Wovon redest du?«, brachte sie mühsam hervor. Hatte Alina etwa herausgefunden, dass Laura weg war?
    Alina baute sich vor Sandra auf. »Wovon ich rede? Du hast also keine Ahnung? Du hast Nerven! Man kann auch lügen, indem man nichts sagt.«
    »Betrügerschlampe«, zischte jemand hinter Sandra.
    Sie fuhr herum. Wer hatte das gesagt? Betrüger… Ein Schwall Säure stieg aus ihrem leeren Magen hoch und verätzte die Speiseröhre. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Die Finger kribbelten. Betrügerschlampe! Wie…? Wer…?
    Alle starrten sie abwartend an. Es war totenstill im Klassenzimmer. Die große Ruhe vor dem Sturm.
    Alina zerrte den Zettel hervor und drückte ihn Sandra in die Hand. »Ein ganz normaler Filialleiter in einer Bank ist dein Vater also!«
    Fassungslos starrte Sandra auf das Stück Papier. Sparkassenleiter wegen Unterschlagung vor Gericht. Eine Kopie des Zeitungsartikels von damals. Ein Bild ihres Vaters in Handschellen. Beinahe neun Jahre war das her. Wer hatte das ausgegraben? Warum?
    »Betrügerschlampe.« Wieder hatte jemand dieses Wort geflüstert. Andere stimmten ein. »Betrügerschlampe. Betrügerschlampe.« Sami schlug im Takt auf die Tischplatte. »Betrügerschlampe. Betrügerschlampe.« Der Chor wurde lauter.
    Sandras Herz raste. Tränen traten ihr in die Augen. Alina wandte sich ab und setzte sich an den freien Platz neben Janina und Marlene. Bunte Lichtpunkte begannen, vor Sandras Augen zu tanzen. Alles drehte sich.
    »Betrügerschlampe. Betrügerschlampe.« Maja sah sie mit gespannter Erwartung an, während sie dieses Wort im Chor mit den anderen wiederholte und wiederholte. Pats Blick schien Eiszapfen zu schleudern. »Betrügerschlampe. Betrügerschlampe.«
    Sandra griff nach ihrem Rucksack und stolperte aus dem Klassenzimmer. Die Tür schlug hinter ihr zu. Frau Meißner, die Englischlehrerin, kam ihr entgegen und sprach sie an. Sandra reagierte nicht, sie lief einfach weiter und weiter.
    Bis sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss geworfen hatte, schaffte sie es, die Tränen zurückzuhalten. Doch dann war kein Halten mehr. Wer hatte das getan? Und warum? Sie hatte mit niemandem Streit, hatte niemandem etwas getan. Nur Alina… dass sie sauer war, das verstand Sandra ja irgendwie. Aber das war doch kein Grund, sich gleich von ihr abzuwenden, oder? Schluchzend warf sie sich in ihrem neuen Zimmer aufs Bett. Eigentlich hatte sie nie groß mit Alina über ihren Vater gesprochen. Das eine Mal war schon ewig her. Sechste Klasse oder so. Da hatte sie Alina gesagt, dass ihre Eltern geschieden waren und ihr Vater Filialleiter einer Bank gewesen war. Mehr nicht. Sie hatte nicht gelogen… aber auch nicht die Wahrheit gesagt… und nun wussten es alle. Betrügerschlampe. Betrügerschlampe. Jedes Wort ein Schlag ins Gesicht. Sie hallten in ihr nach, waren durch nichts zum Schweigen zu bringen. Sie dröhnten im Schädel, vibrierten im Körper, ließen sie verzweifelt schluchzen. Sandra griff nach den Kopfhörern und drehte Unheilig auf volle Lautstärke.
    Ich fang ein Bild von dir, und dieser eine Augenblick bleibt mein gedanklicher Besitz, den kriegt der Himmel nicht zurück. Ich schau zurück auf eine wunderschöne Zeit.
    Die Tränen flossen unaufhörlich, bis die Stimmen allmählich verhallten und sie ganz von Musik erfüllt war, jede Faser ihres Körpers mitschwang, jeder Takt sie tröstend umfing, wie Arme, die sie hielten. Ich fang ein Bild von dir. Aus diesem zarten Gespinst von Worten und Klängen stieg ein Bild empor. Honigfarbene Augen, ein Grübchen, ein Lächeln.

20
    Irgendwie schaffte Sandra es, mittags aufzustehen, Vanessa abzuholen und etwas zu essen auf den Tisch zu bringen. Die Reste vom Containern. Sie selbst hatte keinen Hunger. Wenn sie auch nur einen Bissen essen würde, sie würde ihn sofort wieder rauswürgen. Ihr war kotzübel. In ihrem Kopf dröhnte ein dumpfer Schmerz.
    Vanessa brauchte Hilfe bei den Hausaufgaben und die Küche musste wenigstens ein bisschen

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