Scherbenparadies
aufgesetzt, in den Ohren die billigen Kopfhörer ihres noch billigeren MP3-Players, die sie nun rauszog, als Nils vor ihr stehen blieb und sie ansprach.
Unauffällig näherte sie sich, um mitzubekommen, was die schon wieder von ihm wollte. Es ging um die Englischstunde, neulich, als Sandra einfach weggelaufen war. Abgehauen, und wenn Alina ihr nicht nachgelaufen wäre, dann wären die Schüler der 10 E demnächst auf eine Beerdigung gegangen. Am U-Bahnsteig hatte Alina Sandra eingeholt. Das hatte sie heute Morgen vor der Englischarbeit gesagt, als sie sich vor die Klasse gestellt und sie darum gebeten hatte, Sandra in Ruhe zu lassen. »Ich habe Angst gehabt, dass sie sich vor den Zug wirft. Hört auf damit. Sandra hat niemandem von euch etwas getan.«
Scheinheilige Tussi. Dabei ging sie doch selbst Sandra aus dem Weg, seit sie erfahren hatte, dass Sandras Vater ein Krimineller war. Der Fund dieses Artikels… wow! Das war ein echtes Goldstück gewesen. Sie liebte das Internet. Nichts blieb darin verborgen. Man musste nur wissen, wie man am besten suchte.
Die Stimme von Nils wurde lauter. Was sagte er? Du hättest dich befreien lassen müssen. Einfach gehen, das geht nicht. Bis morgen reichst du eine Entschuldigung nach. Okay?
Sandra nickte. Nils ließ sie einfach stehen, ging weiter am Zaun entlang und stellte dann den Thermosbecher auf die Betoneinfassung eines Blumentrogs. Er griff in die Tasche seiner Lederjacke und zog etwas heraus. Es glitzerte pink. Mon Cherie.
Ihr Herz begann zu rasen. In ihrem Kopf erklang Musik. Feel my love, coming from the heavens above.
Er wickelte das Stück Schokolade aus dem metallisch funkelnden Papier und führte es zum Mund.
When my eyes meet your eyes, you know it’s true.
Genau in dem Moment, als er hineinbiss, trafen sich ihre Blicke. Freude explodierte in ihr, wurde zu funkelnden Sternen. When my eyes meet your eyes, you know it’s true. Baby come dance with me .
22
Es war dunkel. Der Regen hatte nachgelassen. Feuchtigkeit kondensierte und hing als Nebel zwischen Häusern, über Straßen und Wegen und hüllte das Viertel in milchigen Dunst. Sandra ging an kahlen Bäumen, Betonfassaden und graffitibesprühten Mülltonnenhäuschen vorbei und nahm all das nicht wahr.
Sie fühlte sich wie tot. Ihr ganzes Leben ging den Bach hinunter, ihre Ziele und Träume konnte sie in die Tonne treten. Englisch Sechs. Mathe Fünf. Niemals konnte sie das ausbügeln. Maja. Pat. Was erwartete sie morgen? Sie würde einfach nicht hingehen.
Wenn Vanessa nicht wäre, würde sie jetzt im Bett liegen und einfach nur schlafen. Schlafen, schlafen, schlafen. Sie hatte keinen Hunger, konnte nichts essen. Doch Vanessa brauchte etwas, deshalb hatte sie sich aufgerafft.
Sie erreichte den Hinterhof des Discounters. Ein Auto parkte neben der Ladezone. Niemand saß darin. Über der Rampe, die zum Hintereingang führte, brannte wie neulich die Halogenleuchte. Einen Augenblick wartete sie und sah sich um. Kein Mensch weit und breit. Im Schutz der Dunkelheit ging sie zum Container, legte den Rucksack ab und zog die Taschenlampe hervor. Der Deckel des Behälters quietschte, als sie ihn öffnete. Der Lichtkegel der Lampe fiel auf eine Gurke, zwei Bananen und etliche Orangen und Karotten, die noch gut waren. Sie legte Obst und Gemüse in eine der Plastiktüten. In der anderen landeten ein Päckchen Schinken, eine Packung Waffeln, je ein Becher Quark und Erdbeerkefir, zwei Tüten Vollmilch, eine Packung Vollkorntoast und Gorgonzola.
Vorsichtig schloss sie den Container wieder und wollte gerade nach dem Rucksack greifen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Zu Tode erschrocken fuhr Sandra herum.
»Guten Abend, junge Frau.« Der Mann, der sie aus hellblauen Schweinsaugen anstarrte, trug Anzug und Krawatte und am Revers einen Button mit dem Schriftzug des Discounters. »Geiz ist geil. Oder?«
Sandra verstand nicht, was er damit sagen wollte, und sie bemerkte auch das Blitzlicht nicht, das für einen Sekundenbruchteil aufflammte.
»Sich auf Kosten anderer bereichern, ist aber nicht nett.« Mit dem Fuß stippte er eine Tüte an. Sie fiel um, die Orangen kullerten hervor.
Mit diesem Vorwurf holte er Sandra aus ihrer Lethargie. Plötzlich war sie wach. Behauptete er etwa, sie habe geklaut? »Was heißt hier bereichern? Das Zeug lag im Müll. Das wurde weggeworfen, weil es keiner haben will.«
Der Druck seiner Hand auf ihrer Schulter verstärkte sich. »Trotzdem. Diebstahl bleibt Diebstahl. Sie
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