Scherbenparadies
will auch nicht zu euch gehören. Lasst mich einfach in Ruhe.
Der Gong erklang. Frau Meißner kam. Sandra nahm die Kopfhörer raus und studierte die Kritzeleien auf ihrer Bank.
Die Aufgabenblätter wurden ausgeteilt. Es war einigermaßen ruhig, während alle sich bemühten, die Aufgaben zu bewältigen.
Please translate into English. Sandra las den Text, der zu übersetzen war. Indianer messen der Natur große Bedeutung bei. Sie ist für sie nicht Wildnis, sondern ein lebendiges Wesen.
Ihr Hirn war leer gefegt. Ihr fielen die Wörter nicht ein. Beimessen. Wie hieß das auf Englisch? Leere. Sie konnte nicht denken, ihr Gehirn stand auf Stand-by. Was war los mit ihr? Diesen Indianertext hatten sie doch mit Frau Meißner wieder und wieder durchgekaut. Sie hatte vor zwei Stunden noch die Vokabeln gelernt und nun… ihr fiel nicht eine ein. Panik stieg auf. Sie würde die Arbeit verhauen, eine Fünf kriegen, wie in Mathe.
Nur die Ruhe, versuchte sie sich zu beruhigen. Fang mit der Grammatik an und dann machst du die Übersetzung hinterher.
Infinitive or gerund? Complete the sentences, please.
1) American pupils… need not (repeat) a year.
Sandra starrte auf die Zeilen. Infinitiv oder Gerund? Wie war das mit dem Gerund gleich wieder? Am liebsten hätte sie sich gegen den Kopf geschlagen, um ihr Hirn aus dem Ruhemodus in Betriebsstatus zu bringen. Gerund? Infinitiv?
Verzweifelt hob sie den Kopf, begegnete Majas Blick, sah, dass die Lippen ein Wort formten. »Betrügerschlampe!«
Weißes Flimmern, sphärisches Rauschen. Das war alles, was sich bis zum Ende der Stunde in Sandras Kopf noch abspielte. Ihre Hand zitterte, als sie Frau Meißner das leere Blatt reichte.
21
Dank ihres Spickers hatte sie die Übersetzung gut hingekriegt und auch mit Grammatik war sie klargekommen. Sicher schaffte sie diesmal eine Drei. Alles lief nach Plan.
Ein Blick zu Sandra. Indeed . Alles lief nach Plan! Sehr gut. Die Bitch war das reinste Nervenbündel, und so wie die Meißner auf das Blatt guckte, das Sandra ihr mit zitternder Hand gab, war das leer. Blütenweiß. Yeah! Die Bitch versuchte zwar noch immer, cool zu tun… diese Demonstration von ich will nichts mit euch zu tun haben heute Morgen, als sie sich nach hinten gesetzt hatte, ins Abseits. Ein klarer Versuch, cool zu wirken. Aber Sandra war inzwischen alles andere als cool. Nichts prallte mehr an ihr ab. Jeder Pfeil traf ins Ziel. Bald war sie so weit, bald war sie fällig.
Die zweite Stunde begann. Bio beim Kramer. Er war nett. Einer der wenigen Lehrer, von denen sie ernst genommen wurde und den sie mochte. Er bat sie, ins Lehrerzimmer zu gehen. Dort lag ein Stapel Fotokopien in seinem Fach. Ob sie den wohl holen könnte? Klar konnte sie. Ihr Herz schlug schneller.
Wenn Nils sich nicht traute, den ersten Schritt zu machen, dann würde sie das eben tun. Denn sie wusste: Mit seinen Augen sagte er ihr alles. Alles! Er war einfach zu schüchtern. Aber eigentlich war das süß. Richtig süß. Schon seit Tagen befand sich ein Mon Cherie in ihrer Tasche. Mon Cherie. Mein Liebling.
Bisher hatte sich keine Gelegenheit ergeben. Einfach aufs Auto legen, das war plump. Außerdem konnte irgendwer es wegnehmen. Die Fenster von Nils’ Mini standen nie auch nur ein winziges Stück offen, sodass sie es auf den Fahrersitz hätte fallen lassen können. Einfach auf ihn zugehen und es ihm anbieten? Verwegener Gedanke, bei dem ihre Knie ganz weich wurden. Zu direkt, zu offensiv. Sie liebte das Geheimnisvolle. Sie wollte ihm ein Zeichen geben. Dezent, nicht wie ein Trampel. Ein Zeichen, das nur er und sie verstanden. Ein unsichtbares Band.
Sie griff in die Tasche und tat so, als zöge sie ein Päckchen Tempos hervor. Die Süßigkeit ruhte in ihrer Hand, als sie das Klassenzimmer verließ.
Die Meißner öffnete und ließ sie ins Lehrerzimmer, nachdem sie gesagt hatte, was sie wollte. Aus dem Fach von Kramer nahm sie die Kopien und bugsierte unauffällig das Mon Cherie in Nils’ Fach, das direkt daneben war. Ihr Herz klopfte wie wild. Was er wohl denken würde, wenn er es fand? Sicher wusste er sofort, dass es von ihr kam. Mon Cherie. Mein Liebling.
In der Pause hatte er Aufsicht. Gedankenverloren sah er sich auf dem Schulhof um, aß dabei ein Sandwich und trank aus einem Thermosbecher. Irgendwann setzte er sich in Bewegung und steuerte auf Sandra zu.
Sandra!
Wieso Sandra?
Immer und überall Sandra! Ganz allein stand sie wie das heilige Leiden am Zaun, hatte einen Märtyrerblick
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