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Scherbenparadies

Scherbenparadies

Titel: Scherbenparadies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Loehnig
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verließ, hatte sie sogar die Tüten mit den Lebensmitteln dabei. Der Polizeiobermeister hatte den Filialleiter von dieser Form des Schmerzensgeldes überzeugt.
    Wieder blitzte für den Bruchteil einer Sekunde ganz in der Nähe ein Licht auf.

23
    Irgendwie schaffte Sandra es, sich am nächsten Morgen aus dem Bett zu wälzen. Wieder hatte sie schlecht geschlafen, eigentlich gar nicht. Wieder hatte sie lauter Scheiß geträumt.
    Sie brachte Vanessa zur Schule, ging dann heim und legte sich ins Bett. Sie konnte nicht in die Schule gehen. Es ging einfach nicht. Maja. Pat. Es würgte sie allein bei dem Gedanken an die Klasse. Sie stöpselte die Ohren zu und zog die Decke über sich.
    Unheilig erklang in ihrem Kopf. Die Stimme des Grafen. So weich, so schön, so traurig. Das Leben ist mehr, als wir sehen. Schatten, die an uns vorüberziehen. Vielleicht würden Maja und Pat aufhören, wenn sie sahen, dass sie nichts erreichten, dass sie es nicht schafften, sie fertigzumachen. Mathe Fünf. Englisch Sechs. Stark wie ein Baum, der in der Sonne steht. Stark wie die Wolke, die vorüberzieht. Zwei Klassenarbeiten pro Fach standen noch an und etliche Kurzarbeiten. Fieberhaft rechnete sie nach. Es war noch zu schaffen. Sie konnte das Ruder noch herumreißen. Allerdings nicht, wenn sie schwänzte. Stark wie ein Engel, der zum Himmel fliegt.
    Stark, das war sie. Sandra schälte sich aus dem Bett. Zur zweiten Stunde konnte sie es noch rechtzeitig schaffen. Doch sie brauchte eine Entschuldigung. Das wurde langsam zur Routine. Sie schaltete den PC an, schrieb die Entschuldigungen und unterschrieb sie wieder selbst.
    Sie war die Tochter eines Kriminellen und gerade deshalb würde sie keine Unterschrift fälschen, sondern ehrlich bleiben. Wenn Joswig das entdeckte… keine Ahnung, wie sie sich dann herausreden würde… Bisher hatte sie es geschafft, ehrlich zu bleiben. So einigermaßen jedenfalls. Bis auf das Schwarzfahren neulich. Und gestern Abend… haarscharf war sie an der Anzeige vorbeigeschlittert. Wenn dieser Polizist nicht so nett gewesen wäre… Müll mitzunehmen… das konnte einfach kein Diebstahl sein. Diese Vorstellung unterlief Sandras Gerechtigkeitsgefühl. Sie würde im Netz nachsehen, ob Containern tatsächlich strafbar war. Wenn nicht, würde sie weitermachen.
    Sie schlüpfte in Jeans und Pulli, kämmte sich die Haare und warf dabei einen Blick in den Spiegel. Ein Gespenst blickte ihr entgegen. Sie sah grauenhaft aus. Blass, Augenringe, gehetzter Blick, eingefallene Wangen. Hose und Pulli schlotterten um ihren mageren Körper. Es war egal, nicht zu ändern. Sie wollte zur Schule und nicht zum Casting von Germany’s Next Topmodel .
    Schlimmer werden konnte es nicht mehr. Eine Steigerung war nicht mehr drin. Betrügerschlampe war der Höhepunkt gewesen. Ab jetzt konnte es nur noch besser werden mit den Attacken, mit dem Mobbing, mit all dieser geballten Boshaftigkeit. Und das würde sich aushalten lassen. Irgendwie. Sie dachte an Polarlichter und machte sich damit Mut, als sie die Schule betrat.
    Die Aula war wie ausgestorben. Aus den Klassenräumen drangen vereinzelte Stimmen. Sie gab die Entschuldigungen bei Monika Brettschneider ab, mit der Bitte, sie Joswig ins Fach zu legen. Dann huschte sie gerade noch rechtzeitig ins Klassenzimmer und setzte sich an ihren neuen Platz. Ganz hinten. Joswig kam herein. Stimmt: In der zweiten Stunde hatten sie ja Deutsch. Die Kurzgeschichte von neulich war dran. Das Brot von Wolfgang Borchert. Die Geschichte spielte in der Nachkriegszeit, als die Leute fast nichts zu essen hatten. Ein Mann ging nachts heimlich in die Küche und aß Brot. Als seine Frau ihn ertappt, tut sie, als würde sie das nicht sehen, und er lässt sich auf dieses Spiel ein.
    »Weshalb tun sie das?«, fragte Joswig.
    Marlenes Hand schnellte in die Höhe.
    »Marlene?«
    »Weshalb müssen wir uns mit so ollen Geschichten beschäftigen? Das interessiert doch niemanden.«
    »Ich finde das Thema brandaktuell«, hörte Sandra sich plötzlich sagen. »In München sind über 18.000 Menschen auf Lebensmittelspenden angewiesen, weil Hartz IV vorne und hinten nicht reicht.« Okay. Das war ein Fehler gewesen. Statt unsichtbar zu bleiben, hatte sie den Scheinwerfer voll auf sich gerichtet. Alle guckten. Pat grinste und flüsterte Maja etwas ins Ohr. Ein Geraune ging durch die Klasse. Irgendwas war wieder im Busch.
    Joswig bat um Ruhe. Er griff Sandras Einwand auf und gab ihr recht. Alle sollten sich vorstellen, dass dieses

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