Scherbenparadies
begleiten mich jetzt in mein Büro.«
»Was?« Panik stieg in Sandra auf. »Das ist doch kein Diebstahl, wenn man was aus dem Müll nimmt.« Ihre Stimme war ein Flüstern, ihre Knie schienen aus Gummi zu sein.
»Da bin nicht nur ich anderer Ansicht. Das wird Ihnen die Polizei auch gleich bestätigen.« Energisch schob der Mann Sandra vor sich her, quer über den Hof, durch eine Tür und in ein winziges Büro ohne Fenster. Unsanft schubste er sie auf einen Stuhl, zog eine Schublade auf und Handschellen hervor. Wie paralysiert starrte Sandra darauf. Das war nur ein Traum, ein böser Traum. Gleich würde sie aufwachen und alles würde gut sein. »Damit du mir nicht wegläufst, während ich die Polizei rufe.« Ehe Sandra sich versah, hatte der Mann sie mit Handschellen an die Stuhllehne gefesselt, griff nach seinem Handy und verließ das Büro.
Wie viel Zeit verging, bis zwei Polizisten den kleinen Raum betraten… Sandra hatte keine Ahnung. Es konnten Stunden sein oder Minuten. Etwas in ihr hatte das Denken eingestellt. Vermutlich war das gut so.
Irgendwann öffnete sich die Tür und der Filialleiter erschien wieder. Hinter ihm betrat eine junge Polizistin mit ihrem Kollegen den Raum. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, der unter der Uniformmütze hervorlugte wie ihre Dienstwaffe unter der geöffneten Lederjacke. »Polizeihauptmeisterin Franziska Wolter«, stellte sie sich vor. »Mein Kollege Thorsten Becker, Polizeiobermeister.« Ihr Handy begann zu fiepen, sie nahm es aus der Halterung am Gürtel, sah auf das Display und besprach sich leise mit ihrem Kollegen, dann verließ sie den Raum.
Der Filialleiter baute sich zwischen Sandra und dem Polizisten auf. »So. Hier wäre also dieses Früchtchen.« Mit dem Kinn wies er auf Sandra.
»Was soll das?« Thorsten Becker wies auf die Handschellen. Er war groß und muskulös, ein dunkelhaariger Typ mit freundlichen Augen.
»Soll ich etwa zusehen, wie sie abhaut?«
»Hat sie das versucht?«
»Hätte ich das abwarten sollen? Sie ist eine Diebin.«
Sandra richtete sich auf, so gut das angekettet eben ging. »Das bin ich nicht! Ich habe nur Müll aus dem Container genommen.«
»Wie ist denn Ihr Name, bitte?« Fragend sah der Polizist sie an.
Irgendwie wirkte er nicht bedrohlich. Außerdem würde er sich sowieso den Perso zeigen lassen. Widerstand zwecklos. »Plank. Sandra Plank.«
Thorsten Becker wandte sich an den Filialleiter. »Sie befreien jetzt sofort Fräulein Plank von den Handfesseln. Sonst gibt’s eine Anzeige.«
»Wie bitte? Na, Sie sind gut! Die Kleine klaut hier wie ein Rabe und ich soll dabei zusehen oder wie stellen Sie sich das vor?«
»Ich habe gar nichts geklaut!« Zum wievielten Mal kämpfte sie heute Tränen nieder?
»Wenn Fräulein Plank keinen Versuch unternommen hat wegzulaufen und auch nicht gewalttätig geworden ist, dann ist das Freiheitsberaubung. Also bitte…«
Der Filialleiter kramte den Schlüssel aus der Hosentasche hervor, griff nach Sandras Arm und befreite sie von der Fessel. Ein roter Striemen zog sich rund ums Handgelenk.
»Ich habe nicht geklaut. Was ich mir genommen habe, lag im Müll. Wissen Sie, wie viele Lebensmittel weggeworfen werden, die noch genießbar sind? Tonnen. Zuerst werden die Rohstoffe produziert und Energie verbraucht für Herstellung, Verpackung und Transport und dann wird das Zeug weggeworfen. Das ist pervers. Echt.«
Besser, sie verkaufte dem Polizisten das Containern weltanschaulich, denn sie schämte sich zuzugeben, dass sie es aus Armut tat.
»Dennoch ist das Diebstahl«, erklärte der Filialleiter. »Solange der Müllcontainer auf unserem Gelände steht, gehört der Inhalt dem Laden. Und später gehört er dem Müllentsorgungsunternehmen. Ich habe mich erkundigt. Sie sind ja nicht die Erste. Ich bestehe auf einer Anzeige.«
»Sind Sie da sicher?«, fragte der Polizist.
»Natürlich.«
»Fräulein Plank?« Er wandte sich an Sandra. In seinen Augen blitzte ein Funkeln auf. Es wirkte nett, fast verschwörerisch.
Was wollte er? Er hatte doch gehört, dass dieser Rechthaber von Filialleiter stur blieb. »Ja? Was?«
»Möchten Sie auch eine Anzeige erstatten? Freiheitsberaubung ist ja nicht so ganz ohne und Sie haben zwei Zeugen. Meine Kollegin und mich.«
Jetzt verstand sie und spielte sofort mit. »Muss eigentlich nicht sein. Vorausgesetzt ich bekomme auch keine Anzeige.«
Als sie zwei Minuten später, von Thorsten Becker begleitet, den Supermarkt wieder durch den Hinterausgang
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