Scherbenparadies
die FOS zu gehen und danach zu studieren, und dass sie Angst hatte, sich diese Chance in den vergangenen Tagen verbaut zu haben. Mathe fünf. Englisch sechs. Sie war so konfus und durcheinander gewesen und konnte sich doch kaum noch daran erinnern. Es schien in einem anderen Leben gewesen zu sein.
Ein neues Gefühl erfüllte sie von den Haarspitzen bis in die Zehen. Jede Faser ihres Körpers war von Glück durchtränkt. Sie fühlte sich so leicht und so stark. Nichts konnte ihr mehr etwas anhaben. Sie war unverwundbar. Gemeinsam würden sie den Rest des Schuljahres meistern. Natürlich durfte niemand wissen, dass sie zusammengehörten.
Doch jemand wusste es. Schweren Herzens erzählte Sandra Nils von der SMS. Ich weiß, was du tust. Wenn derjenige tatsächlich wusste… Doch Nils beruhigte sie. »Das glaube ich nicht. Da will dir jemand Angst machen und dich verunsichern. Wüsste er tatsächlich, dass wir zusammen sind, dann wäre er konkret geworden.«
Seine Worte klangen so beruhigend und vernünftig. Doch wieder stellte sich das völlig unvernünftige Gefühl ein, beobachtet zu werden. Total idiotisch. Es war dunkel, sie war in ihrem Zimmer, allein mit Nils. Wie sollte sie da jemand beobachten? Er bräuchte schon ein Nachtsichtgerät und müsste durch Wände sehen können.
Im Dunkeln lagen sie nebeneinander. Im Zimmer nebenan schlief Vanessa. Die Geräusche des Hauses sickerten leise ins Zimmer. Der Fahrstuhl rumpelte. Ab und zu schlug irgendwo eine Tür. Der Fernseher in der Wohnung unter ihnen lief zu laut. Über ihnen ging jemand ruhelos hin und her. Sie hielten sich in den Armen und es gab kurze Momente, da glaubte Sandra, all das nur zu träumen.
In die Stille hinein schlug Nils vor, mit Laura zu reden. Vielleicht konnte er sie überzeugen, sich mehr um ihre Töchter zu kümmern und Sandra zu entlasten, damit sie Zeit für die Schule hatte. Sandra war einverstanden. Einen Versuch war es wert. Wenn ihr Klassenlehrer mit ihrer Mutter sprach, machte das vielleicht Eindruck auf sie.
Irgendwann schliefen sie ein, Arm in Arm, und wachten eng umschlungen am Sonntagmorgen auf. Nils holte an der Tankstelle frische Semmeln und Brezen. Sie frühstückten mit Vanessa in der Küche und weihten dabei die Keramikbecher ein. Und dann musste Nils leider heim. Arbeiten korrigieren. Sie küssten sich zum Abschied. Sie sah ihm nach, wie er zum Lift ging, und schon jetzt sehnte sie sich nach ihm.
Am Nachmittag, als sie gerade am Englischreferat arbeitete, klingelte es. Wer konnte das sein? Vielleicht Ayshe. Sandra ging in den Flur und öffnete die Tür. Niemand stand davor. Der Lift fuhr ratternd nach unten. Auf der Fußmatte lag ein wattiertes braunes Kuvert. Weder Name noch Adresse standen darauf. Wer hatte das hier hingelegt? Warum? Eine vage Unruhe breitete sich in Sandra aus. Ich weiß, was du tust! Ging das Mobbing also doch weiter? Hatten sie nur eine kurze Verschnaufpause gemacht? Womit musste sie rechnen? Was steckte in dem Umschlag? Ein Packen Kotztüten?
Die Wut, die in Sandra aufsteigen wollte, versiegte sofort wieder. Sollten sie doch weitermachen. Es war einfach nur kindisch und lächerlich und machte ihr nichts aus. Sie sah Nils’ Augen, roch seinen Duft an ihrer Haut und wurde ganz ruhig. Das Kuvert landete ungeöffnet im Müll.
Sandra arbeitete konzentriert am Referat weiter und machte sich, als sie damit fertig war, einen Becher Tee. Als sie den Teebeutel wegwerfen wollte, fiel ihr Blick auf das Kuvert. Die Neugier siegte. Sie zog es hervor und öffnete den Umschlag. Einige Blätter kamen zum Vorschein. Zwei beschriebene Seiten und Fotos.
Fotos, in DIN-A4-Größe ausgedruckt. Sie waren pixelig.
Sandras Knie gaben einfach nach. Sie plumpste auf den Stuhl am Küchentisch. Ungläubig starrte sie auf die Bilder. Wer hatte die gemacht?
Ich weiß, was du tust!
Es war keine leere Drohung gewesen.
Sie und Nils im Park, wie sie sich küssten.
Weshalb hatten sie das denn ausgerechnet unter einer Laterne getan?
Ein Foto vom Lehrerparkplatz. Es musste vom Freitag sein, als sie ihm einen schnellen Kuss gegeben hatte und dabei neben all der Liebe zu ihm auch ein Schuss Adrenalin durch ihren Körper gejagt war. Was, wenn sie erwischt würden?
Verdammt! Sie waren erwischt worden.
Der Weihnachtsmarkt. Einen einzigen Kuss hatten sie sich dort gegeben. Und genau den hatte jemand mitgekriegt. Wer? Warum?
Sie fühlte sich total benommen, als wäre sie mit dem Kopf gegen eine Betonwand
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