Scherbenparadies
Wenn eine Steigerung überhaupt noch möglich war, dann liebte sie ihn jetzt noch mehr.
Sie parkten vor dem Haus. Er hielt für Vanessa und sie die Eingangstür auf, bevor er selbst eintrat. Als sie hinter ihm zuschlug, wurde draußen ein Motorrad gestartet.
Stolz zeigte Vanessa Nils ihr Zimmer. Sandra hatte es ein wenig umgeräumt und die Matratze ihres alten Bettes mit einem ausrangierten bunten Vorhang bezogen. Nun hatte Vanessa eine Tobmatratze. Nachdem Nils ihr Zimmer bewundert hatte, wollte Vanessa fernsehen. Sandra erlaubte es und zog die Wohnzimmertür hinter ihr zu.
»Magst du einen Tee?«
Nils nickte und folgte ihr in die Küche. Während sie Wasser aufsetzte, Kanne und Becher suchte, suchte sie gleichzeitig nach Worten. Wie sollte sie Nils das mit Laura erklären?
Sie brühte Tee auf, stellte Geschirr und Kanne aufs Tablett und ging voran.
Er sah sich in ihrem Zimmer um und nahm Sandra in die Arme. »Schrecklich patent. Das hast du doch neulich gesagt? Dass du schrecklich patent bist. Auf ein Adjektiv würde ich verzichten. Wie schaffst du das? Wie kommst du hier alleine mit Vanessa klar?« Mit den Händen strich er durch ihr Haar.
»Es geht schon irgendwie.«
»Und deine Mutter? Gibt sie dir wenigstens Geld oder ist sie ganz abgetaucht?«
»Ab und zu kommt sie vorbei und lässt was da.«
»Wie lange geht das schon so?« Jetzt klang er ganz wie ein Lehrer.
Sandra setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch und Nils nahm auf der Bettkante Platz. Sie erzählte ihm von diesem schleichenden Prozess, wie Laura anfangs ab und zu bei Ulf übernachtet hatte und dann immer häufiger weggeblieben war, bis sie das jetzige Stadium erreicht hatten, in dem sie eigentlich gar nicht mehr kam und mit Ulf in eine neue Wohnung gezogen war, deren Adresse Sandra nicht mal kannte. »Ich kann sie eigentlich nur auf dem Handy erreichen oder wenn ich im Einkaufszentrum nach ihr suche. Sie ist krank. Glaube ich jedenfalls. Sie trinkt zu viel. Wenn sie eine Entziehungskur machen würde…« Sandra zuckte mit den Schultern. Vermutlich würde auch das nichts bringen.
»Warum holst du dir nicht Hilfe?«
»Weil sie Vanessa dann in ein Heim stecken oder in eine Pflegefamilie. Und ich… Es geht halt nicht. Zuerst war ihr Vater weg… also, sie hat einen anderen Vater als ich. Er hat sich vor ein paar Jahren von Laura getrennt und will seither so gut wie nichts mehr von Vanessa wissen. Und nun ist Laura aus ihrem Leben verschwunden. Wenn sie jetzt auch noch von mir getrennt wird… das packt sie nicht. Das geht nicht. Und ich pack das auch nicht. Vanessa ist meine Familie. Sozusagen. Im Mai werde ich achtzehn. Dann kann ich mich um sie kümmern und das Sorgerecht beantragen.«
»Das stellst du dir so einfach vor. Das ist es aber nicht. Du wirst Hilfe brauchen. Vom Jugendamt. Ich werde mich mal erkundigen, ob…«
»Nein!« Es war fast ein Schrei. Sandra erschrak selbst darüber. Sie holte Luft, unterdrückte die Panik, die über ihr zusammenschlagen wollte wie eine gewaltige Welle. Er musste das doch verstehen. Wenn das Jugendamt von dieser Situation erfuhr, die Tussi dort würde nicht lange fackeln und Vanessa und sie trennen. Sie beschwor Nils, nichts zu unternehmen. Die paar Monate würde sie durchhalten. Sie würde es schaffen und dann würde sie sich offiziell um ihre kleine Schwester kümmern. Dann auch gerne mit Unterstützung des Jugendamts.
Wieder nahm er sie in die Arme. »Keine Angst. Ich werde nichts gegen deinen Willen unternehmen. Du bist so stark. Und du bist so anders als andere Mädchen in deinem Alter. Aber ich würde euch gerne helfen, wenn du mich lässt.«
Sie wollte kein Geld von ihm. Bei dem Gedanken sperrte sich alles in ihr. Doch er lächelte und strich mit dem Daumen über die Falten auf der Stirn, die ganz automatisch dort erschienen waren. »Ich helfe dir beim Containern. Okay? Und ich kann mich ab und zu um Vanessa kümmern und ein leidlicher Koch bin ich außerdem.«
Nun musste sie lachen. Nils beim Containern. Obwohl, das konnte sie sich plötzlich ganz gut vorstellen. Und wieder wurde sie von diesem Glücksgefühl überrollt. Noch vor wenigen Tage war es unvorstellbar für sie gewesen, dass sie jemals wieder glücklich sein konnte. Dass man jemanden so lieben konnte… mehr als alles… wenn sie ihn jemals verlieren würde, sie würde sterben. Love you so!!!
35
Sie redeten beinahe die ganze Nacht. Über Laura und Sandras Vater Kai, den Betrüger, über Sandras Träume und ihre Pläne, auf
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