Scherbenparadies
Sandra einen Becher Tee gebracht. Das war so süß gewesen. Wenn Vanessa nicht wäre…
Wieder begann das Telefon zu klingeln. Wie spät war es denn? Sandra machte Licht an und sah blinzelnd zum Wecker. Schon halb drei!
Sie hatte die Wohnungstür nicht gehört. War Vanessa leise hereingeschlichen, um sie nicht zu stören?
Beunruhigt stieg Sandra aus dem Bett. Vanessa war weder in der Küche noch in ihrem Zimmer. Um halb drei! Ayshe war noch krank und auch ihre Mutter hatte der Virus inzwischen erwischt. Ganz sicher war Vanessa nicht bei Öczans.
Wo war sie dann?
Die plötzlich aufsteigende Angst vertrieb das Dröhnen aus dem Kopf, vertrieb jeden Gedanken an Nils, überlagerte ihren ganzen Kummer. Vanessa!
Hoffentlich war ihr nichts passiert. Nicht Vanessa. Bitte, bitte, bitte, lieber Gott. Nicht Vanessa.
Das Telefon!
Es hatte aufgehört zu läuten. Vielleicht hatte die Polizei versucht, sie anzurufen, oder das Krankenhaus. Warum war sie nicht sofort rangegangen?
Mit zitternden Fingern drückte sie die Tasten, bis sie die Anruferliste gefunden hatte. Doch dort war keine Nummer gespeichert, die sie hätte zurückrufen können. Nur drei entgangene Anrufe innerhalb der letzten Stunde.
Angst lag kalt in ihrem Magen. Vanessa. Wenn ihr etwas zugestoßen war. Sie war so verträumt… war sie bei Rot über die Ampel gelaufen und ein Auto… oder hatte jemand sie in seinen Wagen gezerrt…?
Das Telefon klingelte. Sandra fuhr vor Schreck zusammen und hätte es beinahe vom Tisch gefegt.
»Ja, hallo«, meldete sie sich atemlos.
»Sandra?«
»Ja…« Wer war das? Die Stimme kannte sie nicht.
»Gut, dass ich dich endlich erreiche. Sven hier…«
»Welcher Sven denn?« Sie kannte keinen Sven und hatte auch keine Zeit für ihn. Was auch immer er wollte.
»Letzten Sommer, das Fest im Schrebergarten meiner Großeltern… du erinnerst dich?«
Ach, der Sven. »Ja klar. Aber ich hab jetzt keine Zeit… Meine Schwester ist verschwunden, ich…«
»Deswegen ruf ich an. Sie ist hier bei mir.«
»Was? Wieso denn bei dir? Geht es ihr gut? Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Ja klar, keine Sorge. Sie hat sich verlaufen. Anscheinend ist sie einer Katze nachgegangen. Ich habe meinem Opa versprochen, den kaputten Fensterladen am Schrebergartenhäuschen zu reparieren. Irgendwer hat den demoliert. Und da ist mir Vanessa über den Weg gelaufen. In der Schrebergartensiedlung. Kannst du sie holen? Sie heult und ich bin noch nicht fertig mit der Arbeit.«
»Na klar. Danke, Sven! Vielen, vielen Dank! In zehn Minuten bin ich da.« Vor Erleichterung hätte sie heulen können. Doch sie hatte keine Tränen mehr.
»Prima. Wir warten im Häuschen von meinem Opa auf dich. Weißt du noch, wo das ist?«
Sandra versicherte ihm, dass sie es finden würde, zog sich eilig Jacke, Schal und Mütze über und machte sich auf den Weg.
Wie kalt der Wind heute war.
40
Sie brauchte doch eine Viertelstunde, obwohl sie im Sturmschritt durch das Viertel lief, die letzten Häuser atemlos hinter sich ließ, bis sie den Wald sehen konnte und die Kleingartenanlage, die sich davor erstreckte.
Das Areal wurde von einem Zaun begrenzt, dessen Zugang offen stand. Der Kies knirschte unter Sandras Schritten. Einsam und verlassen lag das Gelände vor ihr. Die kleinen Holzhäuser waren alle schon für den Winter bereit. Die Läden geschlossen, die Türen verrammelt, die Gartenmöbel weggeräumt. Der Wind trieb welkes Laub in den Ecken zusammen, schichtete es zu Haufen. Er strich durch kahle Bäume und über die nackte Erde der abgeernteten Gemüsebeete. In einem Strauch hingen vertrocknete Beeren. Irgendwo klapperte eine Tür im Wind. Der Geruch nach Schnee lag in der Luft. Sandra blickte nach oben. Der Himmel war tiefgrau. Die Wolken schluckten das Sonnenlicht. Es war dämmrig und konnte jeden Augenblick zu schneien beginnen. Während sie die Jacke enger um sich zog, ließ sie ihren Blick schweifen.
Weiter hinten entdeckte sie ein Motorrad. Das musste Sven gehören, sie erinnerte sich, dass er mit einem Motorrad zum Sommerfest gekommen war.
Die letzten Meter rannte sie. Atemlos kam sie vor dem kleinen Häuschen an. Bei einem Fenster standen die Läden offen. Doch Sven war weit und breit nicht zu sehen. Anscheinend war er mit der Reparatur fertig und wartete drinnen auf sie. Bei dieser Kälte. Einen Moment zögerte sie. Es war so still. Doch dann trat sie auf die Veranda und ging zur Eingangstür. Sie war angelehnt. Sandra stieß sie auf. »Sven?« Wo war er? Wo
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