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scherbenpark

scherbenpark

Titel: scherbenpark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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jetzt? denke ich.
    Und mit einem Mal bin ich froh, keine Eltern zu haben, vor denen ich Rechenschaft ablegen muss. Ich fühle mich sehr frei. Keinen einzigen Menschen interessiert es, ob ich mich hier danebenbenehme. Ich kann mir alles erlauben und bin mein eigener Herr.
    Bange ist mir trotzdem.
    Das Haus ist sehr, sehr ruhig.
    »Bist du müde?« fragt er. »Gehst du früh schlafen? Normalerweise?«
    »Je nachdem«, sage ich. »Wenn ich früh aufstehenmuss, dann schon. In letzter Zeit habe ich auch tagsüber nur geschlafen.«
    Sehr gehaltvolle Konversation.
    »Ich zeige dir das Gästezimmer«, sagt er. »Komm mit.«
    Er geht vor, und ich folge ihm. Es sind viele Treppen in diesem Haus. Einmal höre ich Geräusche, die ich nicht zuordnen kann. Sie sind schrill und schnell, scheinen aber weit entfernt.
    »Was ist das?« frage ich, aber wahrscheinlich so leise, dass er mich nicht hört.
    »Sieh mal«, sagt er. »Ist das okay für dich?«
    Das Zimmer, dessen Tür er vor mir öffnet, ist doppelt so groß wie meins. Meins hat ja auch nur acht Quadratmeter. Am Fenster steht ein Bett, die Bezüge leuchten hell in der Dunkelheit. Daneben eine schwere alte Kommode, ein kleiner runder Tisch und ein Korbsessel.
    Ich mache einen Schritt und stehe drin. Ziehe die Luft ein, den Geruch frisch gewaschener Wäsche. Mache einen zweiten Schritt und stehe an einer verglasten Tür. Sie führt in den Garten.
    »Was ist das für ein Baum?« frage ich. »Der da so weiß blüht?«
    »Kirsche«, sagt er. »Siehst du das nicht? Und da hinten sind die Brombeeren. Aber sie werden erst im August reif.«
    »Ich habe keine Ahnung von Bäumen«, sage ich. »Meine Mutter hat vieles gewusst. Sie hat immer erzählt, welches Kraut wie heißt, aber es hat mich nie interessiert. Und es fällt mir schwer, mir Sachen zu merken, die langweilig sind.«
    Das Schweigen, mit dem er darauf antwortet, kommt mir sehr schwerfällig vor.
    »Danke«, sage ich verlegen. »Für das Zimmer. Es ist nett hier.«
    »Freut mich«, sagt er. »Hast du Hunger?«
    »Nein«, sage ich.
    »Wie – nein? Was magst du zum Abendessen?«
    Ich denke nach. Er auch.
    »Wir haben Brot und Käse im Haus, glaube ich«, sagt er. »Aber ich kann auch eine Pizza bestellen.«
    »Ich mag nichts«, sage ich. »Ich werde schlafen.«
    »Du musst doch etwas essen. Du bist doch schon so dünn.«
    »Ich bin irgendwie müde.«
    »Gut. In der Kommode sind Handtücher. Da drüben ist das Bad. Brauchst du irgendwas?«
    »Ein Buch«, sage ich. »Ich habe nichts zum Lesen mitgenommen.«
    »Was liest du denn gern?«
    »Egal«, sage ich. »Alles.«
    »Dann such dir selber was aus. Komm, ich zeig dir das Wohnzimmer, da steht bei uns die Belletristik.«
    Bei uns.
    »Empfehlen Sie mir lieber was.«
    »Okay.«
    Ich setze mich auf das Bett. Er stellt vorsichtig den Rucksack neben meine Füße und sieht mich an.
    »Magst du ein bisschen allein sein?«
    Ich nicke.
    »Ruf mich, wenn du etwas brauchst. Ich bin . . . irgendwo hier im Haus. Ich suche ein Buch für dich aus.«
    »Okay.«
    Er schließt die Tür. Ich höre seine Schuhsohlen auf dem Parkett quietschen.
    Ich ziehe mir die Socken aus. Wer wohnt denn noch in diesem Haus? Haben Sie eine Frau? Was für einfache Fragen wären das gewesen. Neugierde ist keine Sünde, aber eine große Schweinerei, hat meine Mutter immer gesagt. Das ist auch so ein russischer Spruch. Sie war sehr neugierig. Ich bin nicht neugierig, und vielleicht erfahre ich deswegen vieles sehr früh. Meistens früher, als mir lieb ist.
    Ich ziehe meinen Schlafanzug aus dem Rucksack. Öffne die Schubladen der Kommode und berühre die weichen schneeweißen Badetücher, die ordentlich gefaltet drinliegen. Nehme eins heraus. Trete dabei auf mein Handy, das aus dem Rucksack gefallen ist.
    Ich nehme es und halte es in den Händen, bis es ganz warm wird. Dann wähle ich die Nummer.
    »Wir können grad nicht!« schreit Alissa mir ins Ohr.
    »Du musst dich mit Alissa Naimann melden.«
    »Ich weiß!« schreit sie. »Sascha! Wann kommst du?«
    »Bald. Aber jetzt noch nicht. Warum bist du nicht im Bett?«
    »Weil wir lesen gerade.«
    »Was lest ihr?«
    »Rotkäppchen.«
    »Gefällt's dir?«
    »Nee. Rotkäppchen ist ganz blöd. Sie muss doch sehen, dass das der Wolf ist und nicht die Oma.«
    »Vielleicht will sie das nicht sehen. Sie hat ja Angst vor dem Wolf. Deswegen tut sie so, als würde sie dem Wolf glauben. Sie belügt sich selbst und denkt, dann tut er ihr nichts.«
    »Das ist total baby.«
    »Das ist

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